Gibt es neuen Antisemitismus?

Darüber diskutierten Podiumsgäste und Publikum im Politischen Salon. Einen wissenschaftlichen Blick auf das Thema gab Dr. Kristin Platt vom Forschungsverbund CoVio.


Sechs Menschen sitzen auf einem Podium. Foto: FernUniversität
Auf dem Podium saßen Gandhi Chahine, Kerstin Cegledi-Renard, Hagay Feldheim, Jens Helmecke, Kristin Platt und Andreas Meyer-Lauber (v.l.).

„Man könnte denken, dass Antisemitismus nach dem Nationalsozialismus ein Ende gefunden hat“, sagte Andreas Meyer-Lauber, als er in das Thema des Abends einführte. Dass dem nicht so ist, wurde schnell klar, als bei der Veranstaltung „ImPuls: Politischer Salon Hagen“ eingeladene Podiumsgäste mit der Stadtgesellschaft bereits zum zehnten Mal zusammenkamen, um über ein aktuelles Thema zu diskutieren. Dieses Mal lautete es: „Neuer Antisemitismus?“

Die FernUniversität richtet die Reihe in Kooperation mit dem Theater Hagen und dem Emil Schuhmacher Museum aus. Die Veranstaltung am 30. März im vollbesetzen Theatercafé war zudem ein Beitrag zu den internationalen Wochen gegen Rassismus. Grundlage des Salons war die Aufsatzsammlung „Neuer Antisemitismus?“ der Bundeszentrale für Politische Bildung, die Schirmherr Andreas Meyer-Lauber vorstellte. Er griff dabei unter anderem die zentrale These einer Autorin heraus: „Das Internet und Social Media sind Brandbeschleuniger für Antisemitismus.“

Jüdisches Leben in Hagen

Der Blick ging aber auch gezielt auf das jüdische Leben in Hagen. So schilderte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hagen Hagay Feldheim auf dem Podium, dass Sicherheit eine zentrale Rolle in der Gemeinde spiele. „Wir haben bereits einen Sicherheitsdienst und Kameras und wägen zurzeit ab, ob wir noch mehr brauchen.“ Bei den Überlegungen spielt auch der vereitelte Terroranschlag auf die Hagener Synagoge im September 2021 eine Rolle. Auf die Frage von Moderator Jens Helmecke, ob diese Bedrohung im täglichen Leben präsent sei und dieses belaste, sagte Feldheim: „Wenn eine Stelle regelmäßig Druck bekommt, spürt diese Stelle den Schmerz gar nicht mehr. Die Nerven werden langsam stumpf.“

Wissenschaftliche Betrachtung von Antisemitismus

Einen wissenschaftlichen Blick auf das Thema Antisemitismus gab PD Dr. Kristin Platt. Sie leitet das Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum und ist Mitglied im gemeinsamen Forschungsverbund „CoVio – Collective Violence. Kollektive Gewalt“ der FernUniversität und der Ruhr-Universität. Unter anderem erläuterte sie den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus: „Rassismus ist eine Wissenstheorie, die uns genau sagt, wie wir sind und wie der andere ist. Antisemitismus hingegen ist eine Theorie darüber, wie die Welt ist.“ Ein Anstieg der Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen stehe daher auch im Zusammenhang mit weltweit relevanten Themen wie Globalisierung oder Corona. „Komplexe undurchsichtige Zusammenhänge werden gerne mit Antisemitismus erklärt und damit hat er nach wie vor eine starke Möglichkeit zu mobilisieren.“

Antisemitismus in der jungen Generation

Den Veranstaltern des Politischen Salons war es auch wichtig, zu erfahren, wie die junge Generation zum Thema steht. Mit Kerstin Cegledi-Renard, Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Religion am Fichte-Gymnasium in Hagen und Gandhi Chahine, einem Hagener Regisseur, Autor, Sänger und Musiker, der in der Jugendarbeit aktiv ist und sich selbst viel mit Antisemitismus beschäftigt, saßen auch zwei Personen auf dem Podium, die aus der Praxis berichteten. „Begegnungen sind wichtig. Wir fahren im Rahmen des Religionsunterrichts in alle religiösen Einrichtungen in Hagen. Wir besuchen auch Gedenkstätten und KZs. Unser Ziel ist es, hinzugucken und aufzuarbeiten“, gab Kerstin Cegledi-Renard einen Einblick, wie an der Schule mit dem Thema Antisemitismus umgegangen wird.

Dass dies ein guter Ansatz sein kann, wurde von einem Schüler des Fichte-Gymnasiums unterstrichen, der im Publikum saß: „Wir waren im KZ Buchenwald. Dort alles zu sehen, ist mir sehr nahe gegangen.“

Im Boden eingelassene Gedenktafeln. Foto: imageBROKER/Michael Weber/Getty Images
Die Meinungen über Stolpersteine gingen stark auseinander.

Das Für und Wider von Stolpersteinen

Die weiteren Fragen und Kommentare der Zuhörerinnen und Zuhörer gingen in ganz unterschiedliche Richtungen. Teilweise waren es eigene Erfahrungsberichte, teilweise aber auch gezielte Fragen an die Expertinnen und Experten auf dem Podium. So wollte eine Zuhörerin von Kristin Platt wissen, in welchen Gruppen Antisemitismus besonders verbreitet sei. Klatts Antwort: „In der bürgerlichen Mitte.“

Bei den Teilnehmenden entwickelte sich gegen Ende dann noch eine Diskussion über Stolpersteine. Während einige die im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln, die an das Schicksal der Menschen erinnern sollen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden, gut und wichtig fanden, sahen andere, darunter auch Hagay Feldheim, es als Verletzung an, wenn bei den Stolpersteinen über die Schrift gelaufen und die Namen mit Füßen getreten werden. Auch wenn hier letztlich kein Konsens gefunden werden konnte, brachte Schirmherr Andreas Meyer-Lauber bei seinen Abschlussworten die Erkenntnis des Abends noch einmal auf den Punkt: „Es gibt weiterhin antisemitische Einstellungen. Manche sind offen, manche verdeckt, sie sind komplex und kompliziert, aber sie sind immer wieder mobilisierbar und das erfordert unser Engagement.“


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Carina Grewe | 05.04.2023