Selbstzeugnis eines Massenmörders

FernUni-Historiker Florian Gregor forscht zum NS-Lagerkommandanten Franz Stangl – und findet das landläufige Urteil der Geschichtsschreibung über den Täter sogar noch zu milde.


Alte Fotos von Stangl - unter anderem in weißer Uniform mit Schiffchenmütze und Gehstock Foto: nieznany/unknown, Public domain, via Wikimedia Commons
Während er den Tod abertausender Menschen orchestrierte, inszenierte sich Franz Stangl als jovialer Dandy in blütenweißer Uniform.

Das Maß an Gewalt und Leid, für das Franz Stangl verantwortlich ist, scheint abseits von Zahlen kaum begreiflich: Der gebürtige Österreicher war unter anderem Kommandant der NS-Vernichtungslager Treblinka und Sobibor im besetzten Polen. Hier beteiligte er sich im Zuge der „Aktion Reinhardt“ am systematischen Mord an fast zwei Millionen jüdischen Menschen, Romnja und Roma. Schon zuvor hatte sich der ehemalige österreichische Polizist und Gestapo-Beamte in der „Aktion T4“ hervorgetan und unter anderem die Tötungsanstalt Hartheim verwaltet. „Das T4-Kollektiv, das die Euthanasie organisiert hat, bildet später auch das Täterkollektiv der Aktion Reinhardt“, erklärt Florian Gregor von der FernUniversität in Hagen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Lehrgebiet Geschichte der Europäischen Moderne (Prof. Dr. Alexandra Przyrembel) forscht in seinem Dissertationsprojekt zu Stangl.

Ursprünglich plante der Historiker, eine Typologie verschiedener NS-Täter zu erstellen und sie zu vergleichen. Franz Stangl sollte einer von ihnen sein. Bei seiner Archivarbeit wurde Florian Gregor jedoch klar, dass er auf eine wissenschaftliche Leerstelle gestoßen war: „Das, was aus den Quellen über Franz Stangl hervorgeht, stimmt oft nicht mit dem Bild überein, das in der Wissenschaft von ihm zirkuliert. Hier musste ich intensiver nachforschen.“

Verurteilung in der BRD

Florian Gregor ist sich sicher: Einerseits wusste sich der Massenmörder in ein strategisch günstiges Licht zu rücken, andererseits kamen jahrzehntelang zu wenig Zweifel an seiner Selbstdarstellung auf. 1970 wurde der NS-Täter vom Landgericht Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt wegen der gemeinschaftlichen Ermordung von mindestens 400.000 Menschen. Zuvor war er von Brasilien, seinem letzten Fluchtort, ausgeliefert worden – allerdings unter der Auflage, dass er nach verbüßter Haft seinem Geburtsland Österreich überantwortet werden würde. Das deutsche Gericht setzte sich mit dem lebenslänglichen Strafmaß darüber hinweg. Stangls Anwälte sahen darin eine Chance, das Urteil anzufechten und legten Revision ein. Bevor es zum erneuten Prozess kam, starb der Verurteilte 1971. Soweit die juristische Seite.

Gedenkstätte aus grob behauenen, spitzen Steinen Foto: Tajchman Maria, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Gedenkstätte im ehemaligen Vernichtungslager Treblinka

Eigene Inszenierung

Zurück blieb jedoch ein verhängnisvolles Selbstzeugnis. Die britische Journalistin Gitta Sereny hatte Stangl in den neun Wochen vor seinem Ableben interviewt und daraus eine einflussreiche Biografie geformt (Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker, 1974). „Auf Grundlage dieses Buchs hat sich ein Bild von Stangl etabliert, dass bis heute – größtenteils auch von der Wissenschaft – einfach rezipiert wurde, ohne hinterfragt zu werden“, befindet Gregor. „Das ist seine Geschichte, die er schon während der Vernehmungen entwickelt hat und hier losgelöst von allen juristischen Fesseln ausschmückt.“ Bei seiner Selbstinszenierung schielte Stangl sicher auch schon aufs Revisionsverfahren. Sereny habe damals zwar durchaus versucht, seine Version der Wahrheit kritisch zu reflektieren, so Gregor. „Man muss aber sagen: Letztlich ging sie ihm auf den Leim.“

Kein kleines Rädchen

Wie sieht das falsche Bild aus, das sich bis heute von Franz Stangl hält? Laut Gregor stellte sich der Lagerkommandant als bloßer Erfüllungsgehilfe dar, als kleines Rad in einer zwangsweisen Tötungsfabrik. Dabei nutze er auch den Mythos für sich, Österreich sei Opfer des NS gewesen – als Beamter habe er keine andere Wahl gehabt, als sich unterzuordnen. „Stangl erzählte, er sei nur schicksalhaft ins System verstrickt gewesen, habe einfach nur versucht, durchzukommen, dabei gut zu handeln und niemandem etwas Böses zu tun.“ Juristisch ist die Sache tatsächlich schwierig: „Es gibt keine Beweise, nur Indizien.“ Auch die Schilderungen der wenigen Überlebenden waren oft zu ausschnitthaft, um das wahre Ausmaß von Stangls Verantwortung zu belegen. Aus Gregors geschichtswissenschaftlicher Perspektive verdichten sich die Quellen jedoch zu einem belastenden Mosaik. Er kennt zahlreiche Dokumente, die den vermeintlichen Mitläufer als überzeugten Nationalsozialisten entlarven: „Es ist klar, dass er seine Leitungsposten bekommen hat, weil er – wie es zum Beispiel in einer dienstlichen Beurteilung der Gestapo von 1941 heißt – ‚weltanschaulich zuverlässig‘ und ein alter Kämpfer für die Sache war.“

Florian Gregor Foto: FernUniversität

Stangl erzählte, er sei nur schicksalhaft ins System verstrickt gewesen, habe einfach nur versucht, durchzukommen, dabei gut zu handeln und niemandem etwas Böses zu tun.

Florian Gregor

Teufel im weißen Zwirn

Schon Stangls Auftreten lässt sein zynisches Wesen erahnen. Die ihn umgebenden Leichenberge bekümmerten den „feinen Herrn von Treblinka“, wie Journalist Dietrich Strothmann ihn 1967 in einem ZEIT-Artikel bezeichnete, offenbar nicht. „Er wurde von den Überlebenden als jemand geschildert, der sich durch einen sehr erhabenen Habitus ausgezeichnet hat. Er trug eine weiße Fantasieuniform mit Schiffchenmütze“, so Gregor. „Für sich und seine Kameraden hatte er Ringe mit Lebens- und Todesrunen anfertigen lassen. In dieser Uniform trat er – so schildern es die Überlebenden – nicht militärisch stramm auf, sondern sehr selbstbewusst, jovial und glücklich.“ Anekdoten machen Stangls Menschenverachtung anschaulich: „In den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt gab es riesige Massengräber, die schließlich überquollen.“ Stangl ließ deshalb „Verbrennungsroste“ aus Eisenbahnschienen bauen und die abertausenden Kadaver von den Lagerhäftlingen dorthin transportieren. „Stangl hat sich danebengestellt, die Häftlinge im beiläufigen Plauderton gegrüßt oder ihnen auch mal gönnerhaft eine Zigarette zugeworfen.“

Alte Befunde hinterfragen

Der Fall Stangls legt exemplarisch offen, was die Forschung schon seit einiger Zeit herausgearbeitet hat: NS-Täterinnen und -Täter agierten eben nicht im beschränkten Rahmen automatisierter Tötungsfabriken. „Wenn man sich die Berichte von Überlebenden anschaut, werden die Handlungen der Einzelnen auf einmal sehr sichtbar. Sie haben wenig mit einem automatisierten Prozess zu tun, sondern mit Eigeninitiative.“ Ausgehend von dieser Beobachtung möchte Florian Gregor die NS-Forschung generell dazu anregen, sich selbst und ihren Quellen gegenüber kritisch zu bleiben: „Die klassische NS-Täterforschung hat unseren Blick auf die NS-Verbrechen erweitert und wichtige Arbeit geleistet. So hat sie unterschiedliche Tätertypen entwickelt: Zum Beispiel den Exzess-Täter, den Weltanschauungs-Täter oder den Befehlsempfänger. Das war wichtig. Letztlich sind all diese Kategorien aber auch auf Grundlage von Tätererzählungen vor Gericht entstanden. Der Einfluss der Täterperspektive auf unser Wissen über die NS-Verbrechen wurde lange vernachlässigt.“

Narrative wirken fort

Täterinnen und Täter profitierten letztlich davon, sich als willenlose Erfüllungsgehilfen ohne Eigenverantwortung und in Abgrenzung zu Exzess-Täterinnen und -Tätern zu gerieren, in einer Zeit, da Gerichte eben diese Lesart unterstützten. In den 1960er Jahren sprachen sogar historische Sachverständigengutachten vom verbindlichen „Endlösungsbefehl“, wonach den meisten Angeklagten keine Direkttäterschaft zugeschrieben wurde. „Hitler und sein enger Kreis seien demnach die einzigen gewesen, die den Holocaust wirklich wollten“, erklärt Gregor. Diese Annahme vom „Endlösungsbefehl“ wurde von der Wissenschaft zwar längst verworfen – das Bild von Täterinnen und Tätern, das im Kontext von Gerichtsprozessen der 1960er Jahre entstanden ist, prägt sie jedoch mittelbar weiter. „Manche behaupten, die NS-Zeit sei vollständig ausgeforscht“, sagt Florian Gregor. Er findet hingegen, es ist an der Zeit, den Blickwinkel zu erweitern.

 

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Benedikt Reuse | 14.09.2022