„Jemand hat den roten Knopf gedrückt“

Meinungsstark wie faktenreich wandte sich der Politische Salon Russlands verheerendem Krieg in der Ukraine zu – mit besonders vielen Gästen, Emotionen und bitteren Erkenntnissen.


Zwei Männer auf Podium Foto: FernUniversität
Wissenschaftler auf dem Podium: Professor Felix Ackermann (li.) und Professor im Ruhestand Hajo Schmidt.

Der neunte „Politische Salon Hagen“ war mit über 140 Gästen nicht nur der bestbesuchte, sondern wohl auch einer der bislang emotionalsten Teile der Diskussionsreihe: Diesmal debattierte die Hagener Stadtgesellschaft über „Russlands Krieg gegen die Ukraine“, dessen Ursprung und Folgen sowie über mögliche Auswege aus der Gewaltspirale. Auf dem Podium saßen vonseiten der FernUniversität Prof. Dr. Felix Ackermann (Lehrgebiet Public History) und Prof. i.R. Dr. Hajo Schmidt, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Frieden und Demokratie (1995 bis 2010). Als Leiterin des Fachbereichs Integration, Zuwanderung und Wohnraumsicherung der Stadt Hagen beteiligte sich Natalia Keller am aufwühlenden Gespräch. Zu Gast waren außerdem zwei Betroffene, die aus ihrer ukrainischen Heimat fliehen mussten und Zuflucht in Hagen fanden: Ludmila Merzlikina und im Publikum Anastasija Peters. Schirmherr Andreas Meyer-Lauber moderierte den Abend. Die FernUniversität richtet die Reihe seit 2019 in Kooperation mit dem Theater Hagen und dem Emil Schumacher Museum aus.

Europas neuer Abgrund

Einen ersten visuellen Impuls erhielten die anwesenden Gäste von Rouven Lotz (Direktor des Emil Schumacher Museums) und Organisator Dr. Christian Kurrat (Transferbüro). Sie stellten eine Grafik von Emil Schumacher vor, die einen dunklen, gähnenden Abgrund vor apokalyptischen Farben zeigt. „Das Thema des heutigen Abends und auch das Bild erinnern mich an meinen Großvater, der vor zwei Jahren im Alter von 99 Jahren gestorben ist“, richtete sich Kurrat mit persönlichen Worten ans Publikum. „Er wurde im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Luftwaffe als Flieger eingesetzt.“ Mehrmals sei er dabei nur knapp dem Tod entronnen. „Zeit seines Lebens sprach er davon, dass dieser Krieg ihm seine Jugend geraubt hat – und dass dieser, ich zitiere, ‚scheiß Krieg‘ uns alle lehren sollte, dass so etwas nie wieder passieren darf.“ Auf Erinnerungen wie diesen sei das gemeinsame Haus Europa gebaut worden. Eigentlich soll es den Frieden garantieren. Seit dem 24. Februar erschüttert diese Idee jedoch Putins Angriff auf die Ukraine.

Mann neben Bild auf Ständer Foto: FernUniversität
Kunst und Zeitgeschehen: Christian Kurrat vor einer Grafik von Emil Schumacher von 1995.

Überfall auf Nachbarn

Auf das Bild vom Haus Europa bezog sich auch Prof. Ackermann in seinem Eingangsstatement: „Im selben Haus, in dem wir uns heute zusammengefunden haben, steht zu dieser Zeit eine ganze Wohnung in Flammen.“ Der Vergleich sei zwar nicht in allen Punkten haltbar, räumt der Historiker ein. „Ein vollumfänglicher Angriffskrieg, in dem ganze Großstädte zerstört werden, ist etwas anderes als ein Wohnungsbrand.“ Doch: „Ich habe das Bild gewählt, um auf die Gleichzeitigkeit hinzuweisen. Während wir in unserer gut geheizten WG über erhöhte Vorauszahlungen für die Nebenkosten diskutieren, werden von Russland aus dem Osten der Ukraine Kinder deportiert und von russischen Eltern adoptiert, um sie zu Russen umzuerziehen. Während in Deutschland immer wieder Mitbewohner vorschlagen, mehrere Zimmer der ukrainischen Wohnung dem russischen Brandstifter zu überlassen, um ihm vom Nachgießen von Öl abzuhalten, kämpfen die Menschen in der Ukraine physisch um die Existenz ihres Staates, ihrer Nation“, betonte Ackermann mit großer Eindringlichkeit. „Es geht um nicht weniger als die Zukunft ihres Zuhauses und ihrer Kinder.“ Für ihn ergibt sich aus dem „Vernichtungskrieg“ vonseiten Russlands auch die nüchterne Erkenntnis: „Es handelt sich nicht um einen Konflikt. Da hat jemand – mit Bedacht und bewusst – den roten Knopf gedrückt.“

Fragezeichen für Friedensforschung

„Kam der Überfall auf die Ukraine tatsächlich mehr oder weniger beispiellos aus dem Nichts, dann kann man nur sagen: Das ist Wahnsinn, was da passiert “, spann Friedensforscher Prof. Schmidt den argumentativen Faden seines Kollegen kritisch weiter und fragte mit Blick auf Putin: „Wie kann man sich gegen diesen Mann dann wehren?“ Daran anknüpfend forderte Ludmila Merzlikina: „Mit Putin darf man nicht sprechen. Das sollte überhaupt die ganze Welt so entscheiden. Putin lügt. Er sagt das eine und macht das andere.“ Klare Worte, für die die Ukrainerin von vielen Menschen aus dem Publikum Beifall erntete.

Lässt sich noch verhandeln?

Auch Gäste aus der Politik meldeten sich mit ihren Einschätzungen zu Wort. So plädierte zum Beispiel René Röspel (SPD) eher für Verhandlungen mit dem Kreml: „Wir wollen alle, dass möglichst schnell Frieden herrscht oder Waffenstillstand, vermute ich. Aber die Kernfrage ist tatsächlich: Wie erreichen wir das?“ Die Hoffnung, den Krieg durch immer weitere Waffenlieferungen zu beenden, könne er nachvollziehen, teile sie aber nicht mehr. „Ich denke: Man kann mit niemand anderem reden als mit Putin. Mit wem denn sonst? Wenn es darum geht, Tod, Leid und Zerstörung zu verhindern, müssen Gespräche stattfinden.“ Beifall gab es auch für diesen Standpunkt.

Zwei Frauen auf Podium Foto: FernUniversität
Ludmila Merzlikina (li.) und Natalia Keller auf dem Podium.

Menschlichkeit im Blick

Ukrainerin Anastasija Peters meldete sich aus dem Publikum mit einem dringenden Appell fürs Miteinander: „Ich bin russischsprachige Ukrainerin. Niemals im Leben hat mir jemand gesagt, dass ich nur auf Ukrainisch reden muss. Ja, ich spreche russisch – und kenne viele Freunde, die ukrainisch sprechen. Wir haben einander verstanden! Es geht nicht um die Sprache, Religion oder Kultur – es geht um das Menschliche!“

Ein Winkel, aus dem auch Sozialpädagogin Natalia Keller auf den Krieg blickt, wenn es darum geht, vonseiten der Stadt Hagen geflüchteten Menschen zu helfen. „Letztes Jahr haben wir insgesamt etwa 100 Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern zugewiesen bekommen. Diese Zahlen hatten wir Anfang März 2022 teilweise an einem Tag!“, verdeutlicht die Fachbereichsleiterin die Dimension der ungesteuerten Zuwanderung. „Stand heute haben wir ungefähr 1.600 Ukrainerinnen und Ukrainer in unserer Stadt.“ Allen möglichst unbürokratisch zu helfen, sei mit großer Anstrengung verbunden. Allerdings hob sie auch das große Engagement der Hagener Stadtbevölkerung hervor. „Die Menschen wollen sich integrieren, sind aber auch in einer Zerrissenheit“, resümierte Keller und nannte ein Beispiel: „Unterstützte ich meine Kinder, dass sie in deutschen Schulen lernen? Oder gucke ich, dass sie irgendwie dem ukrainischen Schulprogramm aus der Ferne folgen können?“

Keine schnelle Lösung greifbar

Offen legte die Veranstaltung mit ihren vielen kontroversen Diskussionsbeiträgen vor allem eines: Eine mustergültige Lösung, einen Fahrplan zum Ausweg aus der Katastrophe gibt es nicht. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion nutzten viele Gäste daher die Gelegenheit, ihre Gespräche bei einem Empfang zu vertiefen. So polemisch oder unsicher, nüchtern oder emotional die verschiedenen Standpunkte dabei auch ausfielen – alle Anwesenden schien am Ende doch ein drängendes Gefühl zu verbinden: Die Hoffnung auf schnellen Frieden.

 

Das könnte Sie noch interessieren

Benedikt Reuse | 25.10.2022