Im Web viel Neues: Nach dem Digital Services Act
Der Forschungsschwerpunkt digitale_kultur sieht das neue EU-Gesetz als zentrales Ereignis. Warum es so wichtig ist – und was darüber hinaus ansteht, erklärt Thorben Mämecke.

Die Zeiten sind unruhig im Web. Vor allem auf den Social Media Plattformen verändern sich die sozialen Dynamiken derzeit rapide. Hinter den digitalen Umwälzungen stehen neben wirtschaftlichen Interessen auch politische Agenden oder ideologische Kampagnen – alles bei einer global inkonsistenten Rechtslage. So unübersehbar das Feld scheint, so wichtig ist es, zugrundeliegende Prozesse zu verstehen, nicht nur aus technischer Sicht. Die Wissenschaft stellt sich dieser Aufgabe. Vorne mit dabei ist auch die FernUniversität in Hagen: Im interdisziplinären Forschungsschwerpunkt digitale_kultur befassen sich zahlreiche Expert:innen mit den Gefügen unserer digitalen Gegenwart.
Einmal im Jahr lädt der Forschungsschwerpunkt zu einer großen Konferenz ein, um Fortschritte zu präsentieren, neuen Input zu sammeln und sich mit anderen auszutauschen. Jetzt fand die Jahrestagung auf dem Berliner Campus der FernUniversität statt. Der Titel lautete „Tausend Plattformen“ und hob unter anderem auf die Dynamik im Bereich Sozialer Medien ab. „2008 haben große Social Media Unternehmen begonnen, ihre regionalen Angebote stärker zu internationalisieren“, erklärt Dr. Thorben Mämecke, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Schwerpunkts. „Ab da spricht man zunehmend von einer Zeit der Plattformisierung.“
Seither hat es schon einiges an Forschung zum Phänomen gegeben, die Tagung konzentrierte sich jedoch auf eine junge Entwicklung: den Digital Services Act (DSA), im Februar 2024 von der Europäischen Union erlassen. Das Gesetz erkennt erstmals an, dass von großen Plattformen im Web immense gesellschaftliche Risiken ausgehen und gibt einen verbindlichen Regulationsrahmen vor. „Dieser sieht zum Beispiel vor, dass Plattformbetreibende Transparenzberichte über die Moderation von Inhalten veröffentlichen müssen“, fügt Dr. Jennifer Eickelmann, Juniorprofessorin am Forschungsschwerpunkt, hinzu. Damit einher geht auch die Verpflichtung, mit Daten transparenter umzugehen. Gut für die Wissenschaft: „Die Plattformen müssen sich jetzt unter bestimmten Bedingungen der Forschung öffnen“, betont Mämecke.
Tausend Plattformen – tausend Möglichkeiten
Die bessere Sicht auf vormals recht undurchsichtige Datenpraktiken der Plattformbetreiber sorge für eine Art Goldgräberstimmung, so Mämecke. „Auf den Plattformen findet ein Design von Sozialverhältnissen statt – und zwar nicht zufällig, sondern nach bestimmten Mechanismen – diese sind für die Nutzenden aber nicht einsehbar.“ Zukünftig könnte es hier mehr Klarheit geben – zumindest in Bezug auf Plattformdynamiken die unter die Regularien der EU fallen. Zugleich äußert sich Eickelmann skeptisch: „Wir benötigen ein solches Regelwerk wie den DSA, müssen aber auch sehen, dass die Verordnung kein Allheilmittel ist.“

Doch auch was die konkrete methodische Vorgehensweise von Forschungsprojekten angeht, die diese Mechanismen analysieren wollen, gibt es noch unzählige Diskussionspunkte. Sollten sie besser qualitativ oder quantitativ vorgehen? Wie gelingt der Zugang zu Prozessdaten der Plattformen? Und wie kann man Plattformen unverzerrt betrachten, wenn man als User:in selbst eine subjektive Datenvergangenheit hat, die zukünftige Schritte auf einer Plattform beeinflusst – oder die individualisierten Inhalte, die einem in Feeds und Reels vorgeschlagen werden? Wie lässt sich so eine gemeinsame Datengrundlage zur Erforschung erzeugen?
„Über Fragen wie diese hat es sich sehr gelohnt zu sprechen. Damit haben wir einen Nerv getroffen“, betont Mämecke. „Die Tagung war sehr gut besucht – und es ist uns gelungen, vielfältige interdisziplinäre Perspektiven der Plattformforschung zu vermitteln.“ Neben Forschenden waren zudem Vertreter:innen einschlägiger NGOs wie der Gesellschaft für Freiheitsrechte oder interface.org zu Gast auf dem Berliner Campus der FernUni. Ein bald erscheinender Sammelband wird die Diskussion der Tagung fortführen.
Videoreihe zur Wissenschaftskommunikation
Anlässlich des neuen Digital Services Act feierte digitale_kultur Anfang 2024 auch die Premiere eines medialen Projekts: In der Filmreihe „Theorie|Apparate“ setzen sich die Forschenden des Schwerpunkts mit soziotechnischen Phänomenen auseinander, ästhetisch ansprechend und gut verständlich. Produziert wird das Format in enger Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Lernen und Innovation (ZLI) der FernUni. Zum Start ging es ums Thema „Hate Speech“. Inzwischen hat die Folge eine große Reichweite erzielt.
„Wir haben den Film unter anderem Studierenden gezeigt. Von ihnen haben wir wertvolles inhaltliches Feedback bekommen.“ Mämecke kann sich vorstellen, das Material langfristig auch zur politischen Bildung einzusetzen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten so noch gezielter die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen unserer Zeit unterstützen: „Die Fortbildung von Lehrer:innen, die in der Vermittlung digitaler Kompetenzen mit Jugendlichen arbeiten, aber selbst erst ein Verständnis komplexer digitaler Sozialdynamiken im Web entwickeln müssen, wäre ein denkbares Anwendungsfeld“.
Weiter in 2025
Im Frühjahr wird es nun mit einer neuen Folge weitergehen: Sie dreht sich um das „Internet of Things“ (IoT). Der Begriff meint die Vernetzung der virtuellen Sphäre mit konkreten physischen Gegenständen – zum Beispiel in einem „smarten“ Haushalt, dessen Geräte und Abläufe auch aus der Ferne per App gesteuert und überwacht werden können. Mit der Vernetzung internetfähiger Türschlösser, Jalousien, Haushaltsgeräte, Heizsysteme, Alarmanlagen oder Videoüberwachung gehen viele Potenziale einher. Insbesondere für die Energieeffizienz oder das Empowerment von Menschen mit Behinderung. Gleichzeitig erweitern oder verstetigen sie bestehende Machtstrukturen. Anhand von Expert:innen-Interviews widmen sich der Film daher zum Beispiel der bisher wenig erforschten Rolle, die IoT im Kontext von partnerschaftlicher Gewalt einnimmt.
„Je weiter sich diese Technologien dabei mit unserem Lebensalltag verbinden, desto wichtiger wird es, sie informiert und selbstbestimmt einsetzen zu können“, so Mämecke weiter. „Das ist angesichts der Komplexität dieser Technologien und der ungleich verteilten Nutzungskompetenzen in der Gesellschaft für viele Menschen aber alles andere als einfach. Für diese Probleme möchten wir sensibilisieren.“
Der Release der Episode findet am 16. April von 16 bis 18 Uhr im Rahmen der Wissenschaftsgespräche der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften statt – flankiert von einem Podium mit Protagonistinnen des Films sowie Expert:innen zum Thema Wissenschaftskommunikation. Die Veranstaltung wird hochschulöffentlich auf dem Campus der FernUniversität stattfinden und online übertragen. Weitere Infos
Neue Entwicklungen?
Klar ist: Auch in den nächsten Monaten gibt es viel zu tun für den Forschungsschwerpunkt. Zum Beispiel sorgen die Ereignisse rund um die letzte Bundestagswahl oder Donald Trumps erratische Präsidentschaft, trotz des Digital Services Act, für disruptive Entwicklungen auf den Plattformen. So hat etwa Mark Zuckerberg, der Kopf hinter Diensten wie Facebook, Threads oder Instagram, zuletzt eine massive Deregulierung angekündigt. Was die Zukunft auch bringen mag, die Forschenden von digitale_kultur werden genau hinschauen.
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