Queer Theory: „Es gibt kein Zurück mehr!“
Antke A. Engel lehrt an der FernUni zu Queer Theory. Ein Studienbrief dazu ist nun als Buch erschienen – in einer Zeit, in der große gesellschaftliche Umbrüche anstehen.
Der 1. November ist in diesem Jahr für tausende Menschen in Deutschland ein besonderer Tag: Das Selbstbestimmungsgesetz tritt in Kraft. Fortan können Menschen in Deutschland – im Rahmen gewisser Regeln – über eine einfache Erklärung beim Standesamt frei über ihr eingetragenes Geschlecht bestimmen. „Es gibt viel Kritik am Selbstbestimmungsgesetz. Die ist auch richtig und es ist wichtig, dass sich noch viel daran verändert“, betont Dr. Antke Antek Engel. „Aber: Es tritt in Kraft!“ Auch aus wissenschaftlicher Sicht sei das bemerkenswert, weil somit die Begrenzung auf zwei Geschlechter staatlicherseits überwunden sei.
Engel leitet das Institut für Queer Theory in Berlin, arbeitete an der FernUniversität in Hagen von 2019 bis 2022 als Gastprofessor:in und hat heute einen Lehrauftrag für das Modul „Bildung, Diversität und Ungleichheit“ inne. Den für den bildungswissenschaftlichen Master an der FernUni verfassten Studienbrief „Queer Theorie – Queer_Pädagogik“ hat Engel jetzt auch als Lehrbuch bei Beltz Juventa herausgebracht. Als Wissenschaftler:in möchte Engel über Ideen der Queer Theory aufklären und Lust auf Vielfalt vermitteln. Wer das Ziel „planetarischer Gerechtigkeit“ anstrebe, müsse sich von festen Kategorien verabschieden. „Ich beschränke Queer Studies nicht auf Geschlecht und Sexualität, sondern sehe sie als Kritik an sozialer Ungleichheit und philosophische Form des Differenzdenkens“, so Engel. „Es gibt immer das, was sich nicht einordnen lässt.“
Zum Buch
Antke A. Engel (2024): Queer Theorie – Queer_Pädagogik. Eine Einführung, Weinheim: Beltz Juventa: ISBN: 978-3-7799-7834-3
Hochaktuelles Thema
Bestimmte Uneindeutigkeiten, laut Engel gehören sie zum Menschen natürlich dazu. Trotzdem ist aktuell zu beobachten, welche politischen Spannungen das Thema „Queerness“ erzeugt, die Gesellschaft scheint gespalten: Paraden mit Regenbogenflaggen und rechte Aufmärsche – in vielen Städten der Bundesrepublik finden solche Demos parallel zueinander statt. Die sogenannte Genderdebatte wird in Talkshows, sozialen Medien und auf Parteitagen zum zentralen Thema stilisiert. Der Konflikt reicht bis auf Regierungsebene. Im Frühjahr 2024 polarisierte etwa die bayrische Landesregierung 2024 mit ihrer Entscheidung, gendersensible Sprache in allen Schulen, Hochschulen und Behörden des Freistaats zu untersagen. „Gerade ist es sehr in Mode im Umgang mit Differenz einzuhegen, zu kontrollieren und zu verbieten. Die Seite, die sich für Antidiskriminierung einsetzt, ist in die Defensive geraten“, urteilt Engel.
Neue Lebensrealität
Dennoch sei der aktuelle öffentliche Diskurs kein Grund, den Glauben an ein tolerantes Miteinander aufzugeben: „Auf einer alltäglichen Ebene gibt es doch in vieler Hinsicht längst kein Zurück mehr. In der gelebten Praxis setzen sich einfach neue Selbstverständnisse durch.“ Die Realität vor allem junger Bürger:innen habe sich schlicht verändert in den letzten Jahren: „Alle Menschen haben eigene sinnliche Erfahrungen zu Geschlecht und Sexualität – wie breit man die Begriffe nun auch immer fassen möchte. Wenn sich hier Denkweisen verändern, verändern sich auch Lebensweisen.“ Engel ist sich sicher: Die aufwachsende Generation lächelt in großen Teilen müde über die Bemühungen, mit behördlichen Mitteln althergebrachte Geschlechterbilder festzuschreiben.
Studierende interessiert am Thema
Auch an der FernUniversität mit ihrer vielfältigen Studierendenschaft sind Themen wie Differenz, Gender Studies oder Queer Theory mittlerweile zu sehr beliebten Beschäftigungsfeldern geworden. „Das tolle an der FernUni ist, dass die Studierenden so ein breites Spektrum an Professionalität und Lebenserfahrung aufweisen.“ Uneindeutigkeiten wahrnehmen, neue Blickwinkel einnehmen – bei den selbstbewussten Lernenden käme gerade das gut an: „Ich erlebe sie als begierig, in Diskurse einzusteigen, die ihnen erlauben, das, was sie kennen, nochmal anders zu hinterfragen“, freut sich Engel. „Die FernUni hat eine spezielle, sehr diverse Studierendenschaft, die dadurch auch selbst ein hohes Gespür für Unterschiedlichkeit hat.“
Multimedialer Ansatz
Besonders vielfältig ist auch der didaktische Ansatz in Engels Studienbriefen und ihrem neuen Buch: Die Lehrinhalte werden hier nicht nur in Textform präsentiert, sondern mittels spezieller Lehrvideos zu den Themen „Körper“, „Figurationen“ und „Welten“, zu denen QR-Codes hinleiten. Entstanden sind die drei Filme während Engels Gastprofessur an der FernUniversität – in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Filmfetch und vielen anderen Künstler:innen. Queer Theory fasziniert viele Menschen, nachdem erste Berührungsängste erst einmal überwunden sind: In Zukunft wird das Forschungsfeld sogar noch relevanter werden, prognostiziert Engel. Mit seiner breiten Aufstellung bietet es auch Antworten auf Fragen zu Transhumanismus und der erwartbar voranschreitenden Verschmelzung von Menschen und Maschinen. „Human, Non-Human – lässt sich das eigentlich noch so voneinander trennen?“ Als Wissenschaftler:in freut sich Antke Antek Engel jedenfalls gerade auf diese philosophischen Leerstellen: „Es gibt so viele ethische Fragen, aber gleichzeitig eben auch viele neue Experimentierräume für uns.“