Wer ist hier eigentlich das Opfer?

Ob in Politik oder Kultur: Viele Debatten kreisen um den Begriff des Opfers. Damit folgen sie einem dramaturgischen Fahrplan, der schon lange in der Mediengeschichte existiert.


Historischer Stich: Elisabeth auf Totenbett Foto: ZU_09/DigitalVision Vectors/Getty Images
Besungene Selbstlosigkeit: Auch Elisabeth aus Richard Wagners 1845 uraufgeführter Oper „Tannhäuser“ opfert sich, um ihren Geliebten zu retten.

Niemand will das Opfer sein! Dieser Satz lässt sich nur bedingt unterschreiben, finden Prof. Dr. Uwe Steiner und Dr. Wim Peeters von der FernUniversität in Hagen. Im Gegenteil: Sie gehen sogar vom Phänomen einer „Opferrivalität“ in vielen öffentlichen Diskursen aus – also einem regelrechten Streit darum, wer nun eigentlich das Recht hat, sich oder die eigene Gruppe als Opfer zu labeln. Gemeinsam forschen und lehren die beiden am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft zum Thema. Zudem sind sie Herausgeber der Aufsatzsammlung „Opferdramaturgien nach dem bürgerlichen Trauerspiel“. Der erste Band ist jetzt im Verlag Königshausen & Neumann erschienen: „Zur Viktimologie der Geschlechter in Drama, Libretto und Prosa“. Anfang 2025 folgt der zweite Teil.

Zwei Männer nebeneinander Foto: FernUniversität
Uwe Steiner (li.) und Wim Peeters

Blick ins Altertum

Trauerspiele oder Tragödien – was haben solche alten Bühnenstücke überhaupt mit unserem heutigen Verständnis von Opfern zu tun? Hier hilft ein Blick aufs Altertum: „Keiner weiß, wie die Tragödie in grauer Vorzeit wirklich entstanden ist“, sagt Uwe Steiner. „Es spricht aber sehr viel für die These, dass sie sich als kulturelles Sublimat tatsächlicher Opferrituale entwickelte.“ Demnach könnte es sein, dass Gesellschaften nach und nach davon abkamen, Mitmenschen zu opfern. „Als man im Judentum eingesehen hat, dass das Menschenopfer ohnehin nur stellvertretend für die Reinigung der Gemeinschaft steht, hat man einen weiteren Stellvertreter gefunden: den ‚Sündenbock‘, der in die Wüste getrieben wird. Ein riesiger kultureller Fortschritt!“ Wim Peeters erinnert zudem an die biblische Geschichte von Abraham, der zunächst seinen Sohn opfern soll: „Gott nimmt diese Forderung schließlich zurück – und anstelle von Isaak wird ein Widder getötet.“ Die Tragödie könnte eine unblutige Variante solcher alten Riten darstellen, wofür sogar die Wortherkunft spricht: Der altgriechische Ausdruck tragos bedeutet „Ziegenbock“.

Erziehung durch Empathie

Doch warum sollte es angesichts dessen erstrebenswert sein, als Opfer zu gelten? Steiner und Peeters machen eine wichtige Wegmarke im 18. Jahrhundert aus: In der europäischen Literaturgeschichte kam eine neue Art von Tragödie in Mode, so Steiner. „Das bürgerliche Trauerspiel führt Innovationen ein, die bis in die heutige Medienkultur übergegangen sind – zum Beispiel, die Überzeugung, dass Schauspieler ihre Rolle natürlich spielen sollen.“ Im deutschen Sprachraum half vor allem der aufklärerische Dichter Gotthold Ephraim Lessing der neuen Gattung auf die Füße; mit einer wirkmächtigen dramaturgischen Idee: Lessing und seine Mitstreiter wollten das Publikum nicht bloß unterhalten, sondern zu moralisch besseren Menschen erziehen. Mittel Nummer eins dafür: Furcht und Mitleid. Lessing transportierte seine Botschaft, indem er die Leute bei ihren Emotionen packte.

Doppeldeutiger Begriff im Deutschen

Während sich viele Sprachen, zum Beispiel Englisch, auf die lateinischen Begriffe victima (engl. victim) und sacrificium (engl. sacrifice) zurückbeziehen und damit zwischen zwei Bedeutungen unterscheiden, ist das deutsche Wort Opfer doppelt besetzt: So kann jemand passives Opfer von etwas sein, zum Beispiel von einem Unfall. Er kann aber auch aktiv selbst ein Opfer erbringen – etwa, indem er sich für eine bestimmte innere Überzeugung aufopfert.

Eingeständnis toxischer Männlichkeit

Dabei einigte sich die Kulturszene schnell auf ein Lieblingsopfer: „Das tragische Opfer wird jetzt geschlechtlich codiert. Die Helden sind immer nur weiblich – in der Regel junge, bürgerliche Töchter“, bemerkt Steiner. Welchen Kniff Lessing mit den Frauenfiguren vornimmt, wird gut an seinem berühmtesten Stück Emilia Galotti von 1772 ersichtlich: „Es hat damals das Publikum schockiert. Hier hat nämlich ein Vater seine Tochter erdolcht – auf ihren Wunsch hin.“ Emilia Galotti definiert ihre eigene Opferliturgie. Ihr Vater betont zudem, Frauen seien „höhere moralische Wesen“. Liegt darin der Hinweis auf ein zeitgenössisches Umdenken? „Um die Zeit des 18. Jahrhunderts entsteht tatsächlich eine bisher kaum beachtete neue Geschlechtersemantik: Männer bezeichnen Frauen entgegen der Tradition plötzlich als das moralische Geschlecht.“ Von nun an gelten Frauen als Opfer, die gesellschaftliches Mitgefühl verdienen, Männer hingegen als rohe Täter: „Große Denker wie zum Beispiel Fichte oder Rousseau schreiben sich selbst zu, dass sie defizitäre Wesen seien“, blickt Peeters auf die Epoche. „Die Idee, dass Männlichkeit toxisch sei, ist eindeutig eine Erfindung der Moderne. Und diesen Gedanken macht Lessing produktiv für die Theaterbühne.“

Prestigeträchtiger Opferstatus

Spätestens mit dieser Entwicklung wandelt sich das Tragödienopfer vom Sündenbock zum Streiter für das Moralische, für eine höhere Sache. Peeters: „Sich zu opfern, das ist im bürgerlichen Trauerspiel eine privilegierte Position.“ Das Schafott wird zum Altar: „Die Frauen bekommen das tragische Prestige“, führt Steiner aus. „Damit etabliert das bürgerliche Trauerspiel eine Grundform heutiger medialer Öffentlichkeit. Durch Fiktionen wird Empathie für die Opfer mobilisiert – und bei den Mobilisierten der Glauben erzeugt, die moralisch besseren Menschen zu sein.“ Mit ihrer Beobachtung bestreiten die beiden Forscher nicht den historischen Schaden, den das Patriarchat tatsächlich angerichtet hat; sie wollen vielmehr nachzeichnen, wie Opfer-Erzählungen in den Medien funktionieren.

Polarisierung als mediales Erfolgsmodell

Denn die Zweiteilung in Opfer und Täter erscheint als einfacher Ausweg, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, die zusehends undurchsichtiger werden: „Die Welt ist kompliziert, wir meinen aber, die Geschlechter zu kennen“, bleibt Steiner beim Beispiel. Die Sehnsucht nach einfachen Erklärungsmustern, der Wunsch, die Umwelt in Gut und Böse aufzuteilen, und dabei möglichst aufseiten der sympathieträchtigen Opfer zu stehen, lässt sich auch heutzutage vielfach beobachten – etwa auf Social-Media-Plattformen. Natürlich geht die Polarisierung über Genderfragen hinaus. In Kommentarspalten kocht zu allen möglichen Themen der Streit darüber hoch, wer das eigentliche Opfer sei, mit wem man sich zu solidarisieren habe.

Bücherstapel Foto: FernUniversität
Bücher, Filme und Co: Die Masse an medialen Quellen zum Thema ist überwältigend – Steiner und Peeters trafen eine aussagekräftige Auswahl.

Vorsichtige Urteile fördern

Im politischen Diskurs scheint die Opfer-Rhetorik aktueller denn je. Rechte Gruppe erzeugen mit ihren Parolen oft eine Stimmung, die dem Muster „wir gegen die da oben“ folgt. Nicht selten wird aber auch linken Bewegungen vorgeworfen, mit Opferrollen zu kokettieren. Ob inhaltlich gerechtfertigt oder nicht: „Es finden sich immer wieder Beispiele dafür, dass es aus medialer Sicht erstrebenswert ist, in die Opferposition zu gelangen“, urteilt Steiner. Die beiden Forscher wollen dazu beitragen, aktuelle gesellschaftliche Krisen in ihrer Komplexität besser zu verstehen. Es lohne sich, zu differenzieren, zweimal zu überlegen: „Mit unserem Projekt möchten wir das Wissen offenlegen, das die Literatur über die manchmal unerkannte, manchmal privilegierte Position des Opfers verwaltet“, fasst Peeters zusammen. „Das ist unsere Aufgabe als Literaturwissenschaftler.“ Eine Aufgabe, an der die beiden auch in Zukunft weiterarbeiten wollen.

 

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Benedikt Reuse | 16.07.2024