So bunt geht Bildungswissenschaft
Der Tag der Forschung bündelte drei Antrittsvorlesungen. Die neuen Profs zeigten, dass sie für ihr Fach brennen – und worauf es noch ankommt: Freude, Offenheit und gutes Teamplay.
Es ging um geballte Bildungswissenschaft am Tag der Forschung: Die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften richtet das feierliche Format regelmäßig aus, um Antrittsvorlesungen zu bündeln und die wissenschaftliche Bandbreite der FernUniversität sichtbar zu machen. Obwohl allesamt Bildungsforscher, präsentierten Prof. Dr. Christian Grabau, Prof. Dr. Andreas Martin und Prof. Dr. Maik Wunder ganz unterschiedliche Seiten ihrer Disziplin. Alle einte die spürbare Neugierde und Leidenschaft fürs Fach, aber auch die offen formulierte Dankbarkeit für die privilegierte Forschungsposition und kollegiale Unterstützung. Als Moderatorin führte Prof. Dr. Sandra Hofhues – ebenfalls Bildungsforscherin – durch die Veranstaltung. Im Anschluss an die Vorträge und das dreigeteilte Podiumsgespräch kamen die Gäste bei Pizza und Getränken zusammen, um noch etwas zu bleiben und sich auszutauschen.
Dankbar für die Freiheit zu bleiben
Um den Begriff des Bleibens kreiste auch Christian Grabaus Antrittsvorlesung. Unter anderem bezog er sich auf die Beobachtung der Philosophin Eva von Redecker, die bemerkt, dass viele soziale Kämpfe heutzutage rund ums Bleiben geführt werden – zum Beispiel in den Feldern Migration, Klimaschutz oder Postkolonialismus: „Bewegungsfreiheit ist nur da wirkliche Freiheit, wo auch das Bleiben möglich wäre.“ Von Redeckers Theorie übertrug Grabau auf das Thema Bildung. Als Angelpunkt diente ihm dabei auch ein später Gedanke des Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974): Bildung sei die Fähigkeit, im Entferntesten zu Hause zu sein. Grabau interpretierte ihn aus verschiedenen Richtungen und erinnerte dabei an die Kernaufgabe seiner Professur: „Die wohl wichtigste Herausforderung und Verantwortung unseres Lehrgebiets ist es, die Studierenden mit dieser seltsamen Welt der Bildungswissenschaft bekannt zu machen.“ Ein Job, auf den er sich freut – mit der FernUni als Ort, an dem er sehr gerne bleibt: „Meine zweite Heimat, die ich ganz schön schnell ins Herz geschlossen habe!“ Grabau leitet das Lehrgebiet Allgemeine Bildungswissenschaft seit Oktober 2023. Mehr zu Prof. Grabaus Start an der FernUni
Technik trumpft auf
Empirisch wurde es bei Andreas Martin. Mit detaillierten Beispielen stellte er vor, was neue KI-Technologien der Bildungsforschung bringen können. Vieles sei noch Neuland: „Wir wissen nicht, wie wir das wissenschaftstheoretisch einordnen sollen – und auch nicht, wie wir diese neuen, mächtigen Tools einsetzen sollen, um unsere Forschungsfragen voranzubringen.“ Allerdings arbeitet das Fach mit voller Kraft daran, die Technik gewinnbringend zu nutzen. Das zeigte Martin unter anderem am Beispiel des Large Language Models ChatGPT im Zusammenhang mit der Programm- und Angebotsforschung: „Insbesondere im Sprachbereich hat sich die KI unheimlich schnell auf ein unheimlich hohes Niveau entwickelt.“ Martin erklärte exemplarisch, wie mithilfe von ChatGPT ein umfassendes Programmarchiv schwedischer Volkshochschulen ausgewertet werden konnte. Solche Ergebnisse sind für die Forschung höchst interessant – etwa um die Konjunktur bestimmter Themenfelder zu bestimmten Zeiten in Beziehung zu sozialstrukturellen Merkmalen zu setzen. Das empirische Blickfeld könnte sich so enorm erweitern. „Bei der Nutzung der Large Language Models wird es aus meiner Sicht vor allem darauf ankommen, dass man eine Art Implementationsforschung etabliert, wie ChatGPT in Forschungszusammenhänge eingebunden wird und welche Effekte das auf die Forschung und ihre Ergebnisse hat.“ Andreas Martin ist seit März 2022 Professor für Bildungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Systems der Weiterbildung und seiner Adressat*innen. Mehr zu Prof. Martins Kooperationsprofessur
Virtuelle Realität vs. Praxisschock?
Maik Wunder habilitierte sich 2023 in Hagen und ist Professor für Digitalisierung und Mediatisierung im Feld der Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW. In seinem Vortrag kam er auf die ursprünglich von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Idee „polytechnischer Bildung“ zurück, die „Erziehung und Fabrikation“ zusammendenkt. Wunder bewertete den Ansatz im Lichte aktueller IT-Entwicklungen: Lohnt es sich polytechnische Bildungsansätze mit Blick auf Virtual Reality (VR) neu zu beleben? Als Ausgangspunkt nannte er die häufig formulierte Sorge, die akademische Lehre bereite nicht ausreichend auf den tatsächlichen beruflichen Alltag vor: „Virtuelle Realität tritt mit der Verheißung an, den Praxisschock aus dem Weg zu räumen, weil man meint, mit dieser Technik in der Hochschule selbst diverse pädagogische Arbeits- und Handlungsfelder erkunden zu können“, überschlug Wunder. In Denktradition der materialistischen Bildungstheorie unterstrich er jedoch die enge Verschränkung von Mensch und Technik. Diese gelte es ernst zu nehmen und auch historisch zu begreifen: „Gerade für Studierende, die jenseits einer Gutenberg-Galaxie aufgewachsen sind, ist es von Relevanz, sich mit der Geschichte des Digitalen zu befassen, damit das Vorfindliche nicht als das ewig Gegebene und damit als veränderlich erkannt wird.“ Mehr zu Maik Wunders Forschung
Grenzoffener Dialog in drei Akten
Dass der Tag der Forschung so vielfältig wurde, lag auch an der Beteiligung zahlreicher Kolleg:innen aus der Fakultät: Neben rahmenden Worten von Weggefährtinnen und Mitstreitern bewies das Gespräch an drei Thementischen, wie anschlussfähig und grenzoffen die Bildungswissenschaft ist. So sprach Prof. Dr. Julia Schütz mit Roland Eyerund-Kopetzki von der Hagener Arbeiterwohlfahrt. PD Dr. Franka Schäfer interviewte den Soziologen Prof. Dr. Frank Hillebrandt; und Prof. Dr. Eva Cendon befragte die Literatur- und Medienwissenschaftlerin PD Dr. Irmtraud Hnilica. „Besser als jetzt hätte gar nicht deutlich werden können, welche Positionen wir in unserem Fach verbinden, und was wir in unserem täglichen Tun stets miteinander verhandeln“, fasste Moderatorin Sandra Hofhues den erfolgreichen Nachmittag zusammen.