„Was du im Netz tust, hat Auswirkungen in der analogen Welt“
Zwischen TikTok-Challenges und Selbstdarstellung auf Instagram: Wie wirken sich Social Media auf Kinder und Jugendliche aus? Darüber diskutierte der Politische Salon Hagen.
204 Minuten – so lange sind Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren zurzeit täglich online, die Sechs- bis Neunjährigen kommen auf immerhin eine Stunde im Netz. Am liebsten versenden sie Nachrichten oder schauen Videos und Filme an. Die meistgenutzten Apps dafür heißen TikTok, Instagram und Whatsapp.
Dass Social Media zum ständigen Lebensbegleiter der Kinder geworden seien, schreibt Silke Müller in ihrem Bestseller „Wir verlieren unsere Kinder! Der verstörende Alltag im Klassenchat“ (Droemer). Darin entwickelt die Schulleiterin Vorschläge, wie Eltern und Schule ihrer Verantwortung besser gerecht werden können.
Ihr Buch zeichnet ein eher düsteres Bild aus dem Online-Alltag der jungen Menschen, in dem Mobbing, verstörende Inhalte und fragwürdige TikTok-Challenges gang und gäbe sind. Bei solchen Challenges handelt es sich um Herausforderungen an die Nutzer:innen, auf aktuelle Trends aufzuspringen und zum Beispiel eigene Mutproben zu filmen, die besonders viele Likes auf der Plattform erzeugen. Eltern stünden dem Treiben ihrer Kinder oft hilflos gegenüber und könnten ihnen nicht auf Augenhöhe begegnen, weil sie die entsprechenden Apps selbst nie genutzt hätten.
Auch bildende und kritische Inhalte auf TikTok
Beim Politischen Salon diente Müllers Buch als Einstimmung in die lebhafte Diskussion, wer Kinder und Jugendliche schützt und fit macht für den Umgang im Netz. Aus wissenschaftlicher Sicht brachte Dilek Dipçin-Sarıoğlu eine positive Sichtweise ein. Sie forscht an der FernUniversität zur Selbstdarstellung von Jugendlichen in sozialen Netzwerken und führte qualitative Interviews mit TikTok-Creators. „Auf TikTok finden auch bildende, kritische und emanzipatorische Inhalte statt. Jugendliche nehmen eine aktiv gestaltende Rolle ein, sie erklären in Beiträgen bestimmte Fachbegriffe oder fordern ihre Follower auf, sich selbst zu bilden und zu informieren.“
Man müsse offen sein für die Potenziale von TikTok und sich auch die Frage stellen, wie man die Plattform für die Arbeit mit Kindern nutzen kann, schlussfolgerte Dipçin-Sarıoğlu. „Zunächst einmal ist es wichtig, dass alle jungen Menschen sich mit Social Media befassen“, sagte Jean-Luc Burkhardt, der als Videograph und Content Creator Projektarbeiten mit Schüler:innen durchführt. „Kinder und Jugendliche haben ein großes Mitteilungsbedürfnis. Wir versuchen, ihnen durch unsere Arbeit eine kreative Stimme und Bühne zu geben.” Burkhardt setzt darauf, zu sensibilisieren und klarzumachen: „Was du auf Social Media tust, wie du dich darstellst, hat immer Auswirkungen in der analogen Welt.“
„Wir sind alle Vorbilder“
Wer in diesem Bereich mit Kindern arbeitet, müsse Vorbild sein, betonte Svenja Isabel Baumann. Die FernUni-Studentin ist ausgebildete Musical-Darstellerin und Coach für darstellende Künste, sie unterrichtet an einer privaten Schule in Frankfurt. „Ich bin selbst auf Social Media unterwegs, schon aus Gründen des Eigenmarketings, und natürlich folgen mir meine Schülerinnen und Schüler auf den öffentlichen Accounts.“ Wichtig sei ihr deshalb ein ständiges Hinterfragen, ob sie online dieselben Werte abbildet, „die ich auch in meinem Präsenzunterricht vertrete.“
Wenn man abends mit dem Handy vorm Fernseher hockt, also gleich zwei Bildschirme zum Draufstarren hat, dann „kann man dem Kind doch nicht sagen, du schließt dein Smartphone um 18 Uhr weg!“
Eltern als Vorbilder und die Familie als wichtiger Bildungsort – das hob auch Wolfgang Jörg in seinen Statements auf dem Podium hervor. Der NRW-Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Hagen bezweifelt, dass Politik und parlamentarisches Handeln mit dem Tempo der Entwicklungen im Netz mithalten könnten. Und den schlecht ausgestatteten Bildungseinrichtungen dürfe man zusätzliche Lasten nicht auch noch aufbürden. „Ich glaube nicht, dass in Kitas und Schulen Kapazitäten vorhanden sind, den Kindern Orientierung im Netz zu vermitteln.“
Auf dem Podium:
„Wir sollten Social-Media-Plattformen als Teil der Lebenswelt von Jugendlichen anerkennen, gerade wenn wir mit ihnen arbeiten oder sie erreichen möchten.“
Dilek Dipçin-Sarıoğlu, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen
„Wir bekommen nur einen Bruchteil dessen mit, was tagtäglich im Internet passiert.“
Jean-Luc Burkhardt, Social Media Creator und Videograph, Projectica im ZIB Berchum
„Wissen ist unser höchstes Gut, wir können im Internet Recherche betreiben, uns Wissen aneignen, denn nur wenn wir Wissen haben, können wir gute Entscheidungen treffen.“
Svenja Isabel Baumann, Musicaldarstellerin, Coach für darstellende Künste und Studentin an der FernUniversität in Hagen
„Ich habe neulich eine Filmsequenz gesehen, die komplett durch eine KI erstellt wurde. Was da noch auf uns zukommt, ist unglaublich!“
Wolfgang Jörg (MdL), Vorsitzender des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend im Landtag NRW
„Der Tenor des Buches scheint mir richtig zu sein, dass wir als Erwachsene nicht genug in das Thema investieren. Zentral ist es, die Kinder mit diesen Problemen nicht allein zu lassen.“
Andreas Meyer-Lauber, Hochschulrat der FernUniversität und Schirmherr des Politischen Salons
Als Moderatorin führte Dr. Annabell Bils (links im Bild), Geschäftsführerin des Zentrums für Lernen und Innovation der FernUniversität, durch den Abend, an dem knapp 100 Gäste im Jugendtheater Lutz teilnahmen.
Andreas Meyer-Lauber, Schirmherr des Politischen Salons, wollte die Politik an dieser Stelle nicht aus der Verantwortung lassen und mahnte Regulierungen an. „Wir haben in Deutschland das Presserecht, einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, es gibt private Medien, die alle bestimmten Gesetzen unterliegen. Nur die so genannten Plattformen funktionieren ohne jede Regelung.“ In der Bundespolitik würde darüber diskutiert, ob man Produkte der chinesischen Firma Huawei wegen Spionageverdacht verbauen dürfe, aber wenn es um TikTok geht, das ebenfalls aus China stammt, seien wir blind, kritisierte Meyer-Lauber.
Internetsprechstunde: Anlaufstellen schaffen
Bei den Ideen, was man nun konkret tun könne, kam eine so genannte Internetsprechstunde auf, also dass man eine Anlaufstelle schafft, an die sich Kinder und Jugendliche wenden können, wenn sie Probleme im Netz haben. Svenja Isabel Baumann hielt die Idee für sinnvoll, „weil Kinder auch Angst haben vor negativen Konsequenzen, nachdem sie online einen Fehler gemacht haben.” Dafür wären Vertrauenspersonen in Sprechstunden gut geeignet. Mehr noch, ergänzte Jean-Luc Burkhardt, müsse der Umgang mit mobilen Endgeräten erlernt werden. „Wie suche ich gute Quellen, wie erkenne ich Fake-News? Vielleicht könnte man auch kontinuierlich Videos besprechen, die die Kinder in der vergangenen Woche gesehen haben.“
Insgesamt müssten sich Schulen verändern und erkennen, dass es sich um ein zentrales Thema der Zukunft handele, fasste Andreas Meyer-Lauber zum Abschluss des Podiumsgesprächs zusammen. Dazu zähle, überforderten Eltern zu begegnen, sie zu qualifizieren, mehr Angebote zu schaffen. „So einen Umbau müssten die Schulen auch unter den derzeit schwierigen Bedingungen hinkriegen.“ Auf den Punkt brachte es schließlich eine der zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum: „Was uns fehlt, ist ein Schulfach Digitalisierung!“
Politischer Salon Hagen
Der Politische Salon Hagen ist eine Veranstaltung der FernUniversität in Hagen in Kooperation mit dem Theater Hagen und dem Emil Schumacher Museum Hagen. Auf Grundlage von literarischen, wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen werden hier aktuelle gesellschaftsrelevante Themen mit der Stadtgesellschaft diskutiert.
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