Wie können wir digitale Kultur verstehen?

Als Gesellschaft stecken wir mindestens knietief in digitalen Prozessen. Unumgänglich sind deshalb die Fragen, mit denen sich der Forschungsschwerpunkt digitale_kultur beschäftigt.


Foto: Adobe Express / Prompt und Bearbeitung FernUniversität
Digitale Kultur wie sie sich die generative Bild-KI von Adobe ausmalt.

Swipen, googlen, streamen, liken, zoomen, scrollen – das Digitale durchdringt im Jahr 2024 alle möglichen Lebensbereiche, steckt längst in unserer kulturellen DNA. Das lenkt auch den Blick der Forschung: „In der Wissenschaft hat der Begriff des Digitalen inzwischen einen vergleichbar hohen Stellenwert wie der Begriff des Sozialen“, bemerkt Dr. Thorben Mämecke, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Forschungsschwerpunkts digitale_kultur an der FernUniversität. So groß und wichtig der Begriff inzwischen ist, so unscharf erscheint er jedoch auch. Damit beginnt die Arbeit für die Hagener Forschenden. Immerhin gibt es zahllose Arten, wie sich digitale Kultur betrachten lässt – eine Informatikerin blickt anders auf eine Social-Media-App als ein Bildungsforscher oder eine Historikerin. Wissenschaft muss jedoch präzise sein.

„Wir haben die Philosophie, die Geschichtswissenschaft, die Literatur- und Medienwissenschaft, die Soziologie, die Bildungswissenschaft und die Informatik mit an Bord und über Assoziationen auch die Rechtwissenschaft und die Kunstgeschichte“, überblickt Jun.-Prof. Dr. Jennifer Eickelmann die breite Zusammensetzung des Schwerpunkts, an den sie mit ihrem Lehrgebiet Digitale Transformation in Kultur und Gesellschaft andockt. „Natürlich gibt es gemeinsame Suchprozesse und Reibungen zwischen den Disziplinen.“ Greifen die verschiedenen Zahnräder aber ineinander, setzt das Kräfte frei, die ohne Suchen und Reiben kaum möglich wären: „Dass wir uns alle auf Sprechweisen verständigen können, ist eine große Stärke unsere Forschungsschwerpunkts. Es erfordert viel Arbeit, aber wir haben uns an einem Thema festgebissen.“

Begriffe präzisieren, Instrumente verfeinern

Seit seinem Start 2018 hat digitale_kultur daher auch zahlreiche Workshops, Vorträge und Arbeitstreffen ausgerichtet. Die vierte, internationale, Jahrestagung fand jetzt am Campusstandort der FernUni in Frankfurt am Main statt: unter dem Titel „Digital Hermeneutics II“. Dieser Begriff nimmt eine zentrale Stellung im Schwerpunkt ein: In der Geisteswissenschaft setzen sich Hermeneutiken klassischerweise mit dem vermeintlich richtigen oder eindeutigen Erfassen von Bedeutungen in Texten auseinander. Die Forschenden denken diese Idee nun interdisziplinär weiter. In digitalen Kulturen spielt hierbei beispielsweise eine Rolle, dass sich Bedeutungen multiplizieren und die deutenden Instanzen auch Maschinen sein können. Hinzu kommt die Frage: Welche Instrumente eignen sich überhaupt, um digitale Kultur zu untersuchen? „Wir verstehen im Digitalen ja oft gar nicht mehr, wie Sinn und Bedeutungen zustande kommen – Algorithmen sind ja nicht selten in ihrer genauen Funktionsweise intransparent“, erinnert Eickelmann auch an handfeste politische Debatten, die sich zum Beispiel um Kontrolle und Machtverteilung auf reichweitenstarken Plattformen drehen.

Jun.-Prof. Jennifer Eickelmann Foto: Volker Wiciok/FU

Wir begreifen digitale Technologien nicht nur als Forschungsgegenstände, sondern auch als Forschungsinstrumente, wir nutzen sie also auch selbst.

Jun.-Prof. Jennifer Eickelmann

Achsen des Verstehens

Thorben Mämecke unterscheidet drei wesentliche Achsen des Verstehens, um die sich die Diskussionen im Schwerpunkt während der letzten zwei Jahre gedreht haben: „Wie versteht man digitale Inhalte heute? Aber auch: Wie ‚verstehen‘ die digitalen Technologien uns?“ Denn Algorithmen sind keine Einbahnstraßen: Viele erfassen das menschliche Verhalten genau. Schon generative Suchmaschinenalgorithmen erweitern mit jeder menschlichen Eingabe auch die eigene Datenbasis, dies potenziert sich in Zeiten immer neuer KI-Systeme enorm. „Zuletzt fragen wir uns, was das alles mit dem Selbstverstehen macht“, sagt Mämecke. Schließlich ändert sich auch der Blick auf uns selbst, wenn wir uns tagtäglich im digitalen Raum bewegen, etwa durch den Konsum von Social Media oder digitaler Daten-Spiegel im Rahmen von Self-Tracking-Praktiken.

Die zwei Forschungsgruppen

Im Schwerpunkt arbeiten zwei separate Forschungsgruppen: „Digitalisierung – Subjektivierung – Verkörperung“ und „digital humanities – Forschen im digitalen Raum“. Die erste Gruppe beschäftigt sich unter anderem mit theoretischen Grundlagen – etwa in Bezug auf die Weiterentwicklung von Begriffen und Konzepten. In Anlehnung daran werden auch empirische Projekte verfolgt, die nicht jenseits technologischer Bedingungen erarbeitet werden können. In der zweiten Gruppe legen die Forschenden auf theoretischer Grundlage selbst Hand an die digitale Technik an. „In den Digital Humanities werden entsprechend gemeinsam mit der Informatik eigene Tools zum Interpretieren entwickelt“, erklärt Eickelmann. „Wir wollen die Technik grundsätzlich eben nicht nur als Forschungsgegenstand begreifen, sondern auch reflektieren, wie sie unsere Forschungspraxis beeinflusst und eben auch selbst methodisch nutzen.“ Die praktischen Ergebnisse führen wiederum zu neuen theoretischen Problemen. Auf diese Weise findet eine wechselseitige Ergänzung statt.

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Bewegliche Forschungsobjekte

Diese Dynamik ist wichtig für den Schwerpunkt. Nicht zuletzt, weil die Forschenden sehr bewegliche Ziele ins Visier nehmen: Wer etwa einen Content-Feed bei Instagram betrachtet bzw. erforscht, beeinflusst diesen zugleich massiv, ist algorithmisch in ein System eingebunden, das sich mit jedem Klick, jedem Swipe verändert. „Wir interagieren selbst mit den Aufmerksamkeitsmärkten der Technologien, die wir eigentlich erforschen wollen“, so Eickelmann. „Wie gehen wir wissenschaftlich damit um?“ Die Mitglieder wollen sich über methodische Fragen nicht nur austauschen, sondern sich auch praktisch mit ihnen auseinandersetzen. Deshalb planen die Forschenden Prof. Dr. Matthias Hemmje, Dr. Almut Leh, Dr. Dennis Möbus und Prof. Dr. Uta Störl die Einrichtung eines experimentellen Labs im Rahmen eines laufenden Verbundantrags im Schwerpunkt.

Gemeinsame Projekte

Der Antrag unter dem Titel „Digitale Hermeneutiken“ umfasst insgesamt neun Projekte mit 15 (Teil-) Projektleitenden und führt praktische Forschungsansätze mit einer Theoretisierung von Verstehensfragen unter digitalen Bedingungen zusammen. Er wurde bereits Ende 2023 durch die Sprecherin Prof. Dr. Orsolya Friedrich zur Vorbegutachtung an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) übergeben. „Gerade in solchen Formen der Zusammenarbeit zeigt sich, dass der Forschungsschwerpunkt mehr ist als die Summe seiner Teildisziplinen. Er spielt dabei eine besondere Rolle, denn so ein interdisziplinärer Forschungsantrag wäre ohne eine erfolgreiche, jahrelange Zusammenarbeit in dieser Form vermutlich gar nicht möglich“, so Mämecke. „Unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema anzuwenden ist vergleichsweise leicht. Um diese Perspektiven konstruktiv zu vermitteln, braucht es dagegen regelmäßigen Austausch.“

Frischer Wind in der Lehre

Auch die Fernstudierenden profitieren mittelbar von den Ergebnissen des Schwerpunkts. So nutzt etwa Jennifer Eickelmann die zentrale Position ihrer Juniorprofessur schon jetzt, um Fäden aus der Forschung zusammenzuführen und als Lehrinhalte aufzubereiten. Für die Zukunft ist sogar ein eigenes Modul zu digitaler Kultur geplant. „Und auch hier soll das Digitale natürlich nicht nur Gegenstand sein, sondern direkt im Lernsetting zum Einsatz kommen“, verspricht Eickelmann. Noch befindet sich das Modul in der Konzeptionsphase. Für die Forschenden ist der didaktische Auftrag jedoch eine Herzensangelegenheit: „Wir sind zwar ein Forschungsschwerpunkt, aber uns ist allen klar, dass Forschung und Lehre nicht voneinander zu trennen sind.“

 

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Benedikt Reuse | 22.01.2024