Funktionieren soziale Normen als gesellschaftlicher Kitt?

Ein internationales Projekt sucht Strategien gegen gesellschaftliche Polarisierung – daran beteiligt sind auch FernUni-Forschende. Am Campus Berlin gab es nun ein Arbeitstreffen.


Gruppenfoto Foto: Thomas Rosenthal
Das internationale Team des Projekts „Inclusivity Norms To Counter Polarization In European Societies“ traf sich am Campus Berlin der FernUniversität.

Es geht nicht darum, etwas plötzlich gut zu finden, was man eigentlich ablehnt.

Ob im Fernsehen, den Sozialen Medien oder auf Familienfeiern: Immer öfter prallen Menschen mit unversöhnlichen Positionen aufeinander. Klimawandel, Kriege, Geschlechterpolitik, Corona oder Migration – die Liste an Reizthemen scheint derzeit überlang. Sachliche Verständigung? Fehlanzeige. Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung ist ein Problem, das Demokratien weltweit herausfordert – so auch Deutschland und seine europäischen Nachbarn. Prof. Dr. Oliver Christ ist Psychologe an der FernUniversität in Hagen. Gemeinsam mit seinem Team sucht er nach Strategien, um dem gesellschaftlichen Auseinanderdriften entgegenzuwirken. Den Rahmen bildet ein großes internationales Projekt: „Inclusivity Norms To Counter Polarization In European Societies“, finanziert von der VolkswagenStiftung. Zuletzt kamen alle Projektmitglieder am Campus Berlin der FernUniversität zu einem Arbeitstreffen zusammen.

„Wir wollten nicht nur ein Problem erforschen, sondern auch Lösungsansätze entwickeln“, skizziert Oliver Christ die gemeinsame Vision. „Wie kann man diesem Prozess der Polarisierung wirkungsvoll entgegentreten?“ Die Antwort könnte in der Veränderung der Wahrnehmung bestimmter sozialer Normen liegen. Sie enthalten Handlungsanweisungen und beeinflussen hierüber unser alltägliches Handeln. Bestimmte soziale Normen vermitteln einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Werte gegenseitiger Respekt, Austausch und Gemeinschaft. Wahrscheinlich nehmen sie damit auch einen positiven Einfluss auf die Toleranz, Kontakt- und Kooperationsbereitschaft zwischen unterschiedlichen Gruppen – genau die Einstellungen, die es jetzt braucht: „Wir sehen Toleranz als die Basis für das Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen in der Gesellschaft“, erklärt Teamkollegin Laura Schäfer. „Trotz meiner Ablehnung gegenüber bestimmten Einstellungen oder Praktiken erkenne ich dabei an, dass mein Gegenüber die gleichen Rechte in der Gesellschaft hat wie ich.“

Arbeitssituation am Konferenztisch Foto: Thomas Rosenthal
Toleranz, Kontakt- und Kooperationsbereitschaft – das sind wichtige Parameter, die sozialen Normen günstig beeinflussen können.

Verhalten positiv beeinflussen

Es geht also nicht darum, etwas plötzlich gut zu finden, was man eigentlich ablehnt. „Das ist bei vielen Themen unmöglich zu erreichen“, räumt Christ ein und nennt als Beispiel die Debatte ums muslimische Kopftuch. Zwar sind die Fronten argumentativ verhärtet, ein Auskommen ist aber immerhin möglich: „Auch wenn man bei einer ablehnenden Haltung bleibt – ich dürfte ja immer noch sagen, dass ich das Kopftuch falsch finde – kann ich die gegensätzliche Haltung eben tolerieren.“

Gegenseitiger Respekt und die grundsätzliche Bereitschaft zu Austausch und Gemeinschaft: Die Hoffnung der Forschenden ist, dass sich solche Werte mittels sozialer Normen in der Breite der Gesellschaft verfestigen lassen: „Soziale Normen erreichen einfach automatisch eine große Anzahl an Menschen – anders als die individualistischen Ansätze vieler Interventionen“, beschreibt Christ die Idee. Bestimmte Rahmen bleiben trotz allem unerlässlich, schränkt Schäfer noch ein – etwa mit Blick auf das Verhalten gegenüber Rechtsextremismus: „Toleranz hat natürlich auch Grenzen.“ Wo solche roten Linien verlaufen, erforscht sie derzeit in ihrer Dissertation.

Breit aufgestellt und hochdotiert

Um Wirkung und praktischen Nutzen sozialer Normen möglichst umfassend zu beleuchten, ist das Forschungsprojekt in fünf verschiedene Arbeitspakete aufgeteilt. Das erste wird von dem FernUni-Team angeleitet; auch an dem zweiten arbeitet es gemeinsam mit den Partner:innen der Jagiellonian University in Krakau. Die anderen drei Arbeitspakete liegen bei den Teams von der Autonomen Universität Barcelona, der Utrecht Universität und der Universität Osnabrück. Die VolkswagenStiftung finanziert das Vorhaben von Oktober 2021 bis Ende 2025 mit 1,5 Millionen Euro im Rahmen ihrer Förderlinie „Herausforderungen für Europa“. Zudem bringt sich Oliver Christs Lehrgebiet „Psychologische Methodenlehre und Evaluation“ mit eigenen Mitteln ein, um die Infrastruktur des Projekts zu stärken und die beiden Hagener Arbeitspakete auf möglichst hohem Niveau voranzubringen.

Was bewirken Normen wirklich?

Was beinhalten die zwei vom Hagener Team mitkoordinierten Arbeitspakte? „Im ersten Schritt schauen wir uns an, in welchem Aumaß diese spezifischen sozialen Normen überhaupt in der Gesellschaft wahrgenommen werden und sie mit Toleranz und der grundsätzlichen Bereitschaft zu Kontakt und Kooperation zusammenhängen“, umreißt Laura Schäfer. Die zugrundeliegende Online-Befragung ist groß angelegt, deckt 12 europäische Länder ab – mit jeweils über 1.000 Befragten. „Wir untersuchen zudem, inwiefern sich die sozialen Normen wirklich auf Toleranz, Kontakt- und Kooperationsbereitschaft auswirken.“ Der Kausalzusammenhang kommt mittels spezieller Experimente auf den Prüfstand. Zwei Arbeitspakete blicken auf die Wirkung und Verteilung von Normen in sozialen Netzwerken – mit qualitativen Interviews zur katalonischen Unabhängigkeitsbewegung sowie auf Basis einer komplexen Simulationsstudie. „Hierüber erfahren wir zum Beispiel, wen wir adressieren müssen, um soziale Normen in ein soziales Netzwerk hineinzutragen“, so Christ.

Wissenschaft im Praxischeck

Zuletzt steht die Frage, wie sich soziale Normen nun konkret im Sinne des Gemeinwohls nutzen lassen. Ihr widmet sich das Projekt im fünften Arbeitspaket, das sich um tatsächliche Maßnahmen an fünf Schulen dreht. „Damit führen wir am Ende eine echte Netzwerk-Intervention durch“, stellt Schäfer in Aussicht. „Das heißt: Wir wollen uns das Ganze auch einmal ‚in Action‘ ansehen. Dabei greift die Intervention auf Erkenntnisse zurück, die in den anderen Arbeitspaketen gewonnen wurden.“ Im Rahmen der Intervention werden Schüler:innen mit einer einflussreichen sozialen Position identifiziert und geschult. Über diese Schüler:innen soll dann gezielt die Wahrnehmung der sozialen Normen in der gesamten Schülerschaft verändert werden.

„Dem ganzen Projektteam liegt es am Herzen, unsere Forschung so aufzubereiten, dass sie auch wirklich praktisch nutzbar gemacht werden können“, stellt Oliver Christ klar, und unterstreicht, wie stark soziale Normen unser Verhalten beeinflussen: „Um soziale Normen zu etablieren, die Toleranz und letztlich den Zusammenhalt fördern, sind wir alle gefragt, aber eben insbesondere solche Personen, die im öffentlichen Fokus stehen.“ Beispielsweise demokratisch gesinnte Politiker:innen: „Rechtspopulistische Parteien sind stark darin, ganz bewusst Grenzen zu überschreiten, zum Beispiel bezüglich dessen, wie man andere bezeichnen darf. Damit erreichen sie eine Normverschiebung – und dem muss man entgegenwirken, um Toleranz zu fördern.“


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Benedikt Reuse | 25.10.2023