#TikTokTalks: Bildung und Lernen in den sozialen Medien

Mendina Scholte-Reh und Dilek Dipçin-Sarioğlu (Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung) stoßen mit ihrer neuen Veranstaltungsreihe auf riesiges Interesse. Ein Gespräch über TikTok.


Foto: FernUniversität
Die Wissenschaftlerinnen Mendina Scholte-Reh (links) und Dilek Dipçin-Sarioğlu (Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung) forschen zu Inszenierungspraktiken von Jugendlichen auf TikTok.

Durch die sogenannte For-You-Page scrollen, einen Sound auswählen und ab in den Aufnahmemodus: TikTok gehört mit 1,5 Milliarden monatlichen Nutzer:innen zu den populärsten Plattformen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die deutschsprachige Erziehungs- und Bildungswissenschaft sowie die pädagogische Praxis nehmen sich der Plattform nur zögerlich an. Anders ist das an der FernUniversität in Hagen. Die Wissenschaftlerinnen Mendina Scholte-Reh und Dilek Dipçin-Sarioğlu (Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung) forschen zu Inszenierungspraktiken von Jugendlichen. Am Zentrum für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO) veranstalten sie die neue Reihe #TikTokTalks und stoßen bundesweit auf riesiges Interesse mit mehr als 100 Teilnehmenden pro Veranstaltung.

FernUniversität: Warum ist das Interesse rund um das Thema TikTok aktuell so groß? Und wie haben Sie sich als Forscherinnen der Plattform genähert?

Scholte-Reh: Durch den Corona-Schub hat TikTok viele Nutzende bekommen. Bei mir war es anfangs persönliche Neugier zu schauen, was da genau gemacht wird. Über die For-you-Page bin ich in den Bildungscontent hineingekommen. Viele Creator:innen bringen gesellschaftskritische Perspektiven ein. Da war uns klar: Wir müssen uns das auch als Bildungswissenschaftlerinnen anschauen.

Dipçin-Sarioğlu: Zunächst haben wir Videos thematisch ausgewählt und beobachtet. Im Blick hatten wir Jugendliche, die ihre Erfahrungen von Rassismus, Diskriminierung oder Sexismus geteilt haben. Im zweiten Schritt haben wir Creator:innen aus dem Bildungskontext interviewt. Ob bei wissenschaftlichen Tagungen oder Veranstaltungen von Jugendwerken: Wir merken immer wieder, dass es auf unterschiedlichen Ebenen Interesse gibt. Angefangen von „Wie funktioniert TikTok überhaupt?“ über „Ich schaue mir das an, um Jugendliche besser zu verstehen“ bis hin zu „Ich möchte TikTok für mein pädagogische Arbeit nutzen“.

Dilek Dipçin-Sarioğlu Foto: FernUniversität

Im Blick hatten wir Videos von Jugendlichen, die ihre Erfahrungen von Rassismus, Diskriminierung oder Sexismus geteilt haben.

Dilek Dipçin-Sarioğlu

FernUniversität: Inwiefern passen Bildung und Lernen überhaupt mit TikTok zusammen und wie relevant ist die Plattform für die Bildungswissenschaft?

Scholte-Reh: TikTok und Bildung – das scheint auf den ersten Blick nicht zu passen. Es gibt durchaus eine Lücke in Forschung und Lehre. Unser Blick ist auf das Lernen mit TikTok gerichtet. Viele User:innen und Creator:innen greifen Themen auf, die eine bildungswissenschaftliche Relevanz haben, wie Diskriminierung und Rassismus. Oder sie haben den Anspruch an (Selbst-)Bildung. Das ist die eine Perspektive. Die andere Seite ist die Lebenswelt von Jugendlichen. TikTok ist ein Teil von Sozialisation und Vergemeinschaftung. Das zeigt auch die aktuelle Shell-Jugendstudie. Mediensozialisation ist hier ein wichtiges Stichwort. Jugendliche probieren sich dort aus und kreieren Inhalt.

Dipçin-Sarioğlu: Die Sprecharten und Praktiken der Jugendlichen auf TikTok können dabei helfen, Jugendliche besser zu verstehen und abzuholen. Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten, brauchen Wissen darüber, was da passiert. Wie verändert sich Sprache, was sind gerade die Trends? Für uns als Forscherinnen sind die Bildungsinszenierung der Jugendlichen verknüpft mit dem Aufruf zur Bildung an Zuhörer:innen und Zuschauer:innen spannend. Wir haben auch ein Interview mit einem Creator geführt, der politische Inhalte teilt. Die Überpräsenz der rechten Positionen bei TikTok ist eine Gefahr. Die AFD ist dort stark vertreten Das war im vergangenen Jahr auch Thema beim politischen Salon der FernUniversität. Wir haben es ganz klar mit zwei Seiten einer Medaille zu tun.

Scholte-Reh: Wir müssen daher als demokratische Gesellschaft und als Bildungwissenschaftler:innen auf TikTok sein und die Plattform nicht anderen überlassen.

Mendina Scholte-Reh Foto: Hardy Welsch

Wir müssen daher als demokratische Gesellschaft und als Bildungwissenschaftler:innen auf TikTok sein und die Plattform nicht anderen überlassen.

Mendina Scholte-Reh

FernUniversität: Es gibt also Chancen und Möglichkeiten, aber eben auch Risiken und Gefahren. Welche sind das?

Dipçin-Sarioğlu: Neben den rechten Positionierungen ist die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzenden ein Problem. Insbesondere der Zwang, stundenlang weiter hochzuscrollen, um immer neue Inhalte zu sehen und nichts zu verpassen.

Scholte-Reh: In der Jugendarbeit wird häufig die Perspektive eingenommen: Wie kann ich Jugendliche davon wegholen? Wie können gemeinsame Aktivitäten erfolgen, ohne dass ständig am Handy gehangen wird? Eine weitere Gefahr ist die Komplexitätsreduktion, die wiederum den rechtspopulistischen Argumentationen in die Hände spielt.

FernUniversität: Wie kann TikTok dennoch sinnvoll in der Jugendarbeit eingesetzt werden?

Scholte-Reh: Wer TikTok nutzen will, muss die Plattform erstmal verstehen lernen. Gerade in der Arbeit mit Minderjährigen müssen sich Jugendeinrichtungen über den Datenschutz Gedanken machen.

Dipçin-Sarioğlu: Selbst TikToks drehen mit Jugendlichen, das ist eine Möglichkeit. Eine andere Option wäre es, Videos anzuschauen und einen Faktencheck zu machen. Wie kann man zum Beispiel Verschwörungserzählungen auf TikTok aufdecken?

FernUniversität: Was nehmen die Teilnehmenden konkret aus den #TikTokTalks mit?

Scholte-Reh: Wir sehen die Veranstaltungsreihe als Raum, in dem Akteur:innen aus der pädagogischen Praxis und Forschung zusammenkommen, um über Risiken und Herausforderungen, aber auch über Chancen und Potenziale von TikTok zu diskutieren. Auch die Referent:innen kommen aus Wissenschaft und Praxis. Diese Verzahnung und der Praxistransfer sind uns wichtig.

Dipçin-Sarioğlu: Wir sprechen gezielt pädagogische Berufsgruppen an. Viele Teilnehmende diskutieren im Chat mit. Es geht vor allem darum, Informationen zu sammeln und Erfahrungen auszutauschen. Denn es gibt noch viele Unsicherheiten und offene Fragen, zum Beispiel beim Datenschutz.

#TikTokTalks: Social Media als Ratgebermedium

Die Veranstaltungsreihe „#TikTokTalks – Pädagogik und Social Media“ läuft am Zentrum für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO Hagen). Referent:innen aus Wissenschaft und Praxis bringen ihre Erfahrungen und Perspektiven auf das Medium TikTok ein. Zielgruppe sind Interessierte aus der pädagogischen Praxis, dem Bildungsbereich, der Sozialpädagogik, der Erziehungs- und Bildungswissenschaft sowie Studierende. Beim nächsten Termin am 28. November gibt Tessa-Marie Menzel (TU Dortmund) unter dem Titel „#orientierung – Social Media als Ratgebermedium?“ Einblick in ihre Forschung. Die Vorträge (16 bis 17 Uhr) finden donnerstags digital über Zoom statt. Die Teilnahme ist kostenfrei.

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Carolin Annemüller | 25.11.2024