Wie studieren und lehren wir in Zukunft?
Im Doppelinterview erklären Informatiker Prof. Dr. Torsten Zesch und Dr. Annabell Bils als Expertin für digitale Bildung, wie die Zukunft der FernUni Lehre aussehen könnte.
KI-Tutor, Learning Analytics, Experimentierräume für Künstliche Intelligenz: Diese Begriffe bewegen Forschende, Lehrende und Studierende. Welche innovativen Bildungstechnologien wird es bald an der FernUniversität in Hagen geben, was gibt es schon? Wie geht die Hagener Universität mit Künstlicher Intelligenz in der Lehre um? Im Doppelinterview erklären uns Informatiker Prof. Dr. Torsten Zesch und Dr. Annabell Bils als Expertin für digitale Bildung, wie die Zukunft der FernUni Lehre aussehen könnte.
Nehmen Sie uns doch einmal mit ins Jahr 2050: Wie wird das Studium dann an der FernUniversität aussehen?
Annabell Bils: Das kann man sich auf verschiedenen Ebenen angucken: strukturell, strategisch und technisch. Strukturell glaube ich, dass Studierende viel mehr Flexibilität einfordern werden. Nachgefragt werden flexible Starttermine, flexible Prüfungsformate und -termine. Alles wird individueller. Und wenn wir das auf die technische Ebene rückkoppeln: Zum Beispiel wird durch Learning Analytics bis 2050 sehr, sehr viel möglich sein. Ich glaube fast schon, dass kein einziger Studierender mehr dasselbe Curriculum haben wird wie ein anderer, weil viel mehr Lerninhalte auf individuellen Empfehlungen beruhen werden.
Dr. Annabell Bils
Die Erziehungswissenschaftlerin ist Geschäftsführerin im Zentrum für Lernen und Innovation (ZLI). Das ZLI ist Serviceeinrichtung und Anlaufstelle für Lehrende und Studierende aller Fakultäten. Die Netzwerkerin für digitales Lehren und Lernen ist dort Teil des sechsköpfigen Leitungsteams und verantwortlich für Lehr-Lern-Innovationen.
Torsten Zesch: Ehrlich gesagt tue ich mich immer schwer mit großen Gesellschaftsentwürfen und Fragen danach, wie wir etwas in 20 oder 30 Jahren machen wollen. Auch im Jahr 2024 ist schon einiges möglich, was transformativ sein könnte. Wir gucken uns Probleme von Studierenden und Lehrenden an – im Englischen sagt man pain points – und fragen uns, was wir aktuell konkret tun können: Wie wollen sie studieren? Wie wollen wir die Lehre verbessern?
Bils: In der Mediendidaktik ist das Vorgehen genauso. Zuerst gibt es ein Bildungsanliegen, ein Bildungsproblem, dann guckt man auf die technischen Lösungen. Im Feld Künstliche Intelligenz (KI) ist gerade ein sehr großer Umbruch. Daher gehört das Thema selbst in die Curricula, um den Studierenden bestimmte Kompetenzen für den Arbeitsmarkt mitzugeben und die Lehrenden fit zu machen. Deswegen ist es auch total wichtig, dass man Experimentierräume schafft, damit in einem gesicherten Rahmen Dinge ausprobiert werden können.
Genauso eine Experimentierumgebung gibt es bereits an der FernUniversität. Was passiert da genau?
Bils: Das Zentrum für Lernen und Innovation (ZLI) und unser Forschungsschwerpunkt CATALPA haben im Wintersemester eine KI-Experimentierumgebung gestartet, die sowohl ChatGPT als auch anpassbare OpenSource Large Language Models umfasst. Die Lehrenden können dort konkrete Sachen ausprobieren, die sie in ihrer Lehre umsetzen wollen, und schauen, ob das machbar ist, was sie sich vorgenommen haben.
Zesch: Die verschiedenen Modelle haben ja unterschiedliche Vor- und Nachteile. Wir experimentieren auch, um herauszufinden, wo die Qualität der OpenSource-Modelle reicht und wo wir vielleicht das neueste, beste Modell brauchen – was dann auch entsprechend kostet.
Bils: Im Idealfall wird es irgendwann so eine Art Schalterlösung geben, dass man sagt: Für dieses Szenario lege ich den Schalter auf ChatGPT, aber für ein anderes Szenario reicht mir ein anderes Tool.
Das ZLI und CATALPA arbeiten also eng zusammen?
Bils: Genau. Die Forschungsergebnisse aus CATALPA kommen zu uns ins Innovationsteam und wir versuchen, diese in den Regelbetrieb zu bekommen. Wenn die Forschenden zum Beispiel herausgefunden haben, dass sich ein bestimmtes Tool für eine gewisse Gruppengröße super eignet, dann ist es für uns interessant, die Ergebnisse direkt umzusetzen. Ich glaube, das ist genau das, was es braucht: eine Abteilung, die forscht und eine andere, die umsetzt.
Zesch: Dem kann ich nur zustimmen.
Prof. Dr. Torsten Zesch
Der Informatiker leitet die Forschungsprofessur Computerlinguistik und ist stellvertretender Direktor des Forschungszentrums CATALPA (Center of Advanced Technology for Assisted Learning und Predictive Analytics). Mit seinem Team untersucht Torsten Zesch, wie sprachtechnologische Verfahren den Bildungsprozess unterstützen können.
Woran forschen Sie denn gerade, Herr Zesch?
Zesch: Wir schauen uns verschiedene Anwendungsmöglichkeiten für KI im Lehr-Lernprozess an. Zum Beispiel machen wir gerade ein Experiment mit Klausurkorrekturen in der Psychologie. Wir erforschen in einer wissenschaftlichen Studie, was wäre, wenn ein KI-Modell sich die Antworten ansieht, und schauen uns den Effekt so eines Assistenzsystems an. In der Entwicklung sind gerade zum Beispiel Tools, die mithilfe von KI Leseverständnisfragen zu Textabschnitten vorschlagen oder dabei unterstützen, Feedback zu Hausarbeiten zu geben.
Seit diesem Jahr gibt es auch einen KI-Leitfaden, der den Lehrenden Sicherheit beim Einsatz von generativer KI in der Lehre geben soll. Wie kann so ein Leitfaden denn mit dem rasanten Entwicklungstempo Schritt halten, das es zurzeit gibt?
Bils: Indem unser Leitfaden zweistufig ist. Es gibt den Grundstein. Dort steht, dass wir als FernUniversität technologieoffen sind und dass das Rektorat der Nutzung grundsätzlich zustimmt. Die konkreten Handlungsempfehlungen werden dann sukzessive versioniert und überarbeitet. Im Moment ist es ja so, dass wir für jedes einzelne Tool Verwaltungsakte bemühen. Irgendwann in der nächsten Zeit wird gar nicht mehr klar erkennbar sein, welches Tool KI-Anteile hat und welches nicht. Deswegen brauchen wir eine strukturelle Ermöglichungskultur. Eine Abteilung, die Innovationen mitbegleitet und den Spielraum hat, grundsätzlich strukturell Sachen auszuprobieren.
Zesch: Durch KI wird alles noch stärker technisiert, als es schon ist. Und das hat auch organisatorische Herausforderungen für Universitäten, gerade für das Zentrum für Digitalisierung und IT (ZDI). Mit jedem System, was dazukommt, gibt es auch eine neue Anforderung und das ist für eine Uni nicht so ohne Weiteres zu stemmen.
Bils: Ja, es kommen immer neue Anforderungen. Man braucht Ressourcen, die das umsetzen, aber man muss gleichzeitig den Regelbetrieb aufrechterhalten. Man muss es beidhändig machen. Die eine Hand muss die Innovation reinbringen und die andere Hand das Bestehende aufrechterhalten.
Zesch: Man muss aber auch nicht jedem technischen Trend hinterherlaufen und die Technik nicht um der Technik willen einsetzen. Bringt es etwas für die Art, wie wir lehren und lernen wollen? Darum geht es und dafür ist die Begleitforschung wichtig.
Ein aktuelles Stichwort ist der individuelle KI-Tutor. Wann wird es so etwas geben? Wie ist der Stand?
Zesch: In einem gewissen Sinne gibt es das bereits. Man kann sich jetzt schon eines der besseren Modelle greifen und mit nicht ganz schlechten Ergebnissen über seine Probleme beim Verständnis des Materials sprechen. Einfach nur die Technologie bereitstellen, ist aber nur der halbe Weg zu einem individuellen Tutor. Es fehlt noch der persönliche Aspekt. Deswegen arbeiten bei CATALPA ja auch Forschende aus der Informatik, der Psychologie, der Bildungsforschung und der Soziologie zusammen.
Gibt es denn auch Dinge, die bei allen technischen Möglichkeiten trotzdem in Menschenhand bleiben sollten?
Bils: Beratungssituationen zum Beispiel. Man könnte KI zwar nutzen, um eine Gesprächsgrundlage zu schaffen. Aber dieses miteinander Brainstormen, Reflektieren, die eigenen Bedürfnisse und Bedarfe anzugucken und das zu übertragen in ein konkretes Ergebnis: Ich glaube, das ist schon etwas, was menschlich ist und bleiben sollte.
Zesch: Das Lernen selbst muss immer noch in der Person stattfinden. Wir können nicht sagen, wir brauchen nichts mehr zu lernen, weil wir eine KI haben, die alle Fragen beantwortet. Ich muss zumindest noch meine Ziele formulieren können. Ich muss wissen, warum ich bestimmte Sachen erreichen will und dann sind diese Tools super hilfreich. Aber bei all den Dingen, bei denen wir denken, warum muss ich das eigentlich den ganzen Tag machen, da ist Automatisierung gefragt.
Bils: Dazu habe ich letztens etwas sehr Passendes gelesen: Da sagte eine Frau, sie möchte nicht, dass KI für sie schreibt und Kunst macht, damit sie Zeit für ihre Wäsche und ihren Abwasch hat. Sie möchte, dass KI sich um ihre Wäsche und ihr Geschirr kümmert, damit sie selbst Zeit für Kunst und Schreiben hat.
Zesch: Dazu passend haben wir gerade ein Projekt zur Handschriftenerkennung. Aus Diskussionen mit Lehrenden und aus eigener qualvoller Erfahrung weiß ich, dass das Entziffern der Handschriften häufig die größte kognitive Last ist. Anschließend die Bewertungsentscheidungen zu treffen, macht demgegenüber richtig Spaß. Wenn KI die Handschriften digitalisiert, kann das also sehr helfen. Das ist ein kleines Beispiel, wo sie an einer Stelle eingesetzt werden kann, die nicht gleich alles ändert. Alle können weitermachen wie bisher, nur geht es ihnen besser. Das ist doch eine schöne Aussicht.
Beitrag aus dem Wissenschaftsmagazin fernglas 2024/2025.
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