Der lange Weg zur Chancengleichheit

Der Politische Salon Hagen diskutierte, warum die Gleichstellung der Geschlechter noch Generationen dauern wird, und über Ansätze, wie wir den Wandel beschleunigen können.


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Wer übernimmt die meisten Alltagsaufgaben? Rote Karte = Frauen, blaue Karte = Männer

Bis zur weltweiten Chancengleichheit von Männern und Frauen werden noch 131 Jahre vergehen. Laut dieser Einschätzung des Weltwirtschaftsforums (WEF) wird das Thema Gleichstellung noch über ein Jahrhundert auf der politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Agenda stehen. In Europa könnten wir ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern immerhin schon in 67 Jahren erreichen. Es ist naheliegend, dass sich der 15. Politische Salon in Hagen die Frage vornimmt: „Wo stehen wir auf dem Weg zur Gleichberechtigung?“

„Die Erschöpfung der Frauen“

Zum Diskussionsabend waren 70 Teilnehmende ins Emil Schumacher Museum gekommen. Als Aufhänger diente das Buch „Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit“ (Droemer) von Franziska Schutzbach. Darin analysiert die Soziologin und Genderforscherin das oft unsichtbare, unbezahlte Arbeitspensum, das Frauen in der Gesellschaft auferlegt wird. Sie beschreibt, wie Weiblichkeit häufig gleichgesetzt wird mit Fürsorglichkeit und wie Frauen in Beziehungen, Familien und im Beruf als die unsichtbaren Trägerinnen von Harmonie, emotionaler Fürsorge und Trost agieren – Erwartungen, die aus ihrer „weiblichen Natur“ abgeleitet werden.

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Nadja Kappenstein, Betriebsrätin bei Thyssenkrupp Hohenlimburg (li.), und Stefanie Kamp, Stadtbäckerei Kamp Hagen.

„Diese allgegenwertigen Ansprüche, die an Frauen gestellt werden, treiben die Frauen in eine Erschöpfung. Sie haben selber das Gefühl, es allen rechtmachen zu wollen und sehen sich ständig überfordert“, fasste Andreas Meyer-Lauber zusammen, der das Buch vorstellte. Der Schirmherr des Politischen Salons gab auch Einblicke in seine persönlichen Überzeugungen: „Gleichberechtigung von Männern und Frauen bleibt und ist ein Herzstück einer demokratischen Gesellschaft, um die wir streiten sollten.“

Aus juristisch-historischer Perspektive schaute Ulrike Schultz auf die Gleichheit der Geschlechter. Die Juristin hat während ihrer beruflichen Laufbahn an der FernUniversität von 1985 bis 2014 mehr als 200 Frauenveranstaltungen organisiert. „Das ganze 19. und auch große Teile des 20. Jahrhunderts haben Frauen einen unglaublich mühsamen Kampf um ihre Rechtsgleichheit gefochten.“ Doch seitdem habe sich viel getan: In Deutschland leitete etwa das Grundgesetz 1949 die Stärkung von Frauenrechten ein. Änderungen im Familienrecht sowie im Arbeits-, Sozial- und Strafrecht trügen inzwischen erheblich zur Gleichstellung bei. „Aber es ist immer noch nachzuschärfen, um zu einer gerechten Verteilung der finanziellen Ressourcen zu kommen“, lautete ihr abschließendes Urteil.

Andreas Meyer-Lauber Foto: FernUniversität

„Gleichberechtigung von Männern und Frauen bleibt und ist ein Herzstück einer demokratischen Gesellschaft, um die wir streiten sollten.“

Andreas Meyer-Lauber

Wie Lohngerechtigkeit in einem Betrieb vor Ort aussehen kann, davon berichtete Unternehmerin Stefanie Kamp. Sie leitet 33 Filialen der Hagener Stadtbäckerei Kamp mit 300 Mitarbeitenden. „Anders als in anderen Branchen bezahlen wir Frauen und Männer bei gleicher Qualifikation absolut gleich“, so Kamp. Ein wichtiges Anliegen sei ihr zudem, das traditionelle Bild der Bäckereien mit dem Mann in der Backstube und der Frau hinter dem Verkaufstresen immer weiter aufzubrechen. Bei der Verteilung der Elternzeit sieht sie allerdings nach wie vor Luft nach oben. „Das ist bei uns noch sehr klassisch in Frauenhand. Wir haben nur ganz wenige Anfragen von Männern, die gern in Elternzeit gehen möchten.“

Der Alltag ist in Frauenhand

Von ihren persönlichen Erfahrungen als junge Frau in einem eher männerdominierten Betrieb bei Thyssenkrupp Hohenlimburg erzählte Nadja Kappenstein. Die heute 38-Jährige arbeitet seit ihrer Ausbildung als Betriebsrätin. „Ich persönlich fühle mich sehr wohl, ich werde wertgeschätzt, man hört mir zu. Ich musste mir das als Frau allerdings erarbeiten, wobei ich klar sagen möchte, dass auch Männern nicht alles zufliegt.“ Der Eindruck, dass sie sich mehr beweisen musste entstand bei ihr durch die Themen, die an sie herangetragen wurden. „Alles, was mit Gesundheitsschutz und Azubi-Themen zu tun hatte, dazu wurde ich gefragt, aber die harten Themen wie Arbeitszeiten oder Entgelte, das hat man mir nicht zugetraut.“ Losgelöst von ihren persönlichen Erfahrungen sieht sie mehr Chancen zur Gleichberechtigung in größeren Unternehmen, die mit der Bindung an Tarifverträge für geschlechtsunabhängige Bezahlung sorgen können.

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Susanne Deitert, Leiterin der Frauenberatung Hagen (li.), und Ulrike Schultz, Akad. Oberrätin a.D., FernUniversität in Hagen.

Immer wieder schlug das Moderationsteam des Abends, Annabell Bills und Felix Tusche die Brücke zum Buch, das sich auch mit dem Konzept Mental Load befasst. Damit ist die Belastung gemeint, die durch die ungleiche Verteilung von Alltagsaufgaben zulasten von Frauen entsteht. Eine Umfrage klopfte ab, wie es im Hagener Publikum bestellt ist: „Wer kümmert sich bei Ihnen zuhause um den Wocheneinkauf?“, „Wer putzt das Badezimmer?“, „Wer organisiert federführend die Verabredungen der Kinder?“, „Wer denkt an Geburtstage und Geschenke?“ Das Antwortverhalten bestätigte einmal mehr die These der mentalen Mehrbelastung von Frauen.

Wie stark sich die Benachteiligung von Frauen auf persönlicher Ebene äußern kann, wurde durch den Beitrag von Susanne Deitert besonders deutlich. Sie leitet die Frauenberatungsstelle in Hagen und berichtete von ihren Erfahrungen mit traumatisierten Frauen, die Gewalt erleiden mussten. „Ich erlebe immer wieder, dass Frauen nicht in ihrem Opferstatus bleiben, wenn sie den Schritt aus der Gewalt herausgehen, denn das führt zu einer eigenen Ermächtigung.“ Auch wenn dieser Schritt gewiss nicht einfach sei und ihm in manchen Fällen ein mehrere Jahre dauernder Annäherungsprozess voranginge. Sie appellierte, sich die Strukturen bewusst zu machen, die Frauen daran hindern, ihre Potenziale und Möglichkeiten voll zu entfalten. Das sei ein wichtiger Schritt um ökonomische, aber schließlich auch körperliche, häusliche und sexualisierte Gewalt langfristig zu verhindern.

Politischer Salon Hagen

Der Politische Salon Hagen ist eine Veranstaltung der FernUniversität in Hagen in Kooperation mit dem Theater Hagen und dem Emil Schumacher Museum Hagen. Auf Grundlage von literarischen, wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen werden hier aktuelle gesellschaftsrelevante Themen mit der Stadtgesellschaft diskutiert.

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Sarah Müller | 06.11.2024