„Die Philosophie hat immer alles gerahmt“

Martin Lenz ist neuer Professor für Theoretische Philosophie in Hagen. Unter anderem interessiert er sich dafür, wie wir Menschen Dinge verstehen – auch aus historischer Sicht.


Gruppenfoto Foto: FernUniversität
Thomas Walter (li.), Geschäftsführer der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften, und Rektorin Ada Pellert gratulierten Martin Lenz zur Ernennung.

„Vielleicht wird die Fernlehre das Modell der Zukunft sein“, überlegt Prof. Dr. Martin Lenz und erinnert an die Lage in der Corona-Pandemie zurück. Darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen Menschen lernen und verstehen, ist sein tägliches Handwerk. Als neuer Professor für das Lehrgebiet Theoretische Philosophie an der FernUniversität in Hagen sieht er die Lehre daher nicht nur als Berufung, sondern auch als spannenden Forschungsgegenstand: „Was verändert sich, wenn wir vor allem digital kommunizieren? Ich habe zum Beispiel beobachtet, dass sich in digitalen Lehrveranstaltungen ganz andere Studierende zu Wort melden.“ Für ihn ist klar: „Ich möchte bewusst digitale und nicht-digitale Formate ausprobieren, um vergleichen zu können.“ Bildungsgerechtigkeit ist ein wichtiges Thema für Martin Lenz. Entsprechend freut er sich auf das durchlässige Hagener Studiensystem: „Ich habe gehört, dass die FernUni eine wirklich interessante Studierendenschaft hat. Viele arbeiten schon beruflich und bringen eine sehr hohe intrinsische Motivation ins Fernstudium mit.“ Wegen der hohen Bereitschaft aufseiten der Lernenden ist Martin Lenz schon lange Fan von weiterführenden Bildungsangeboten – auch persönlich: „Schon als Schüler habe ich gerne VHS-Kurse besucht. Dort waren eben Leute, die sich wirklich für die Themen begeistern. Das ist einfach eine schöne Sache!“

Gerne zurück ins Ruhrgebiet

Als weiteren Pluspunkt sieht der Forscher die Lage der FernUniversität: „Mit Hagen kehre ich in die Nähe meiner geistigen Heimat zurück.“ Martin Lenz studierte in Bochum Philosophie, Linguistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und promovierte 2001. „Nach der Promotion war ich erstmal ein Jahr lang arbeitslos“, bekennt er – und spricht damit bewusst die teils prekären Verhältnisse im Wissenschaftsbetrieb an. „Dann hatte ich aber Glück, bin mit einem Antrag durchgekommen und konnte nach Cambridge gehen.“ Die Arbeit in Großbritannien öffnete dem Wissenschaftler viele Türen. „Erst dort habe ich verstanden, wie sehr Wissenschaft vom Netzwerken abhängt.“ Nach abgeschlossenem Forschungsprojekt, siedelte er wieder nach Deutschland über und habilitierte sich 2009 in Berlin. „Zum Glück bekam ich danach eine feste Stelle in Groningen.“ Hier forschte und lehrte er von 2012 bis 2024. „Eigentlich wollte ich mich danach gar nicht mehr woanders bewerben.“ Das änderte sich erst, als er die offene Stelle an der FernUniversität sah. „Die Professur klang sehr interessant, auch weil ich so meinen Schwerpunkt in der theoretischen Philosophie weiterverfolgen konnte.“

Wie kommt man raus aus der Idee, dass man immer gleich das Ganze erklären muss?

Prof. Martin Lenz

Herz fürs Unbekannte

Ein Fokus seiner Arbeit liegt auf mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Philosophie. „Als ich angefangen habe zu studieren, dachte ich mir, mittelalterliche Philosophie ist so ziemlich das Langweiligste, das ich mir vorstellen kann“, verrät Lenz mit einem Schmunzeln. „Das Mittelalter erschien mir weit weg, seine Philosophie wenig attraktiv und schablonenhaft.“ Ein Urteil, das er mit der Zeit revidierte – vor allem, weil ihm sein Bochumer Mentor, der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, die Vorzüge des Fachgebiets näherbrachte. „Heute komme ich immer wieder gerne auf diese Periode zurück, sie ist anregend zu studieren.“ Lenz zwinkert: „Und außerdem ist es doch leichter, über langweilige Dinge interessante Sachen zu sagen als umgekehrt.“ Wichtig ist ihm, auch abseits des philosophischen Kanons zu lesen und den unbekannten Werken Aufmerksamkeit zu schenken. Dahinter steht für ihn eine spannende wissenschaftspolitische Frage: „Man featurt ganz bestimmte Autoren, auf die man sich einschießt, sie ediert und alles von ihnen übersetzt – alles andere verstaubt in den Bibliotheken und wird nicht einmal in lesbares Latein übertragen. Warum eigentlich?“

Mittelalterlicher Tisch mit Zutaten Foto: Konoplytska/iStock/Getty Images Plus/Getty Images
Von der Theorie zum Experiment: Eine empirischere Sicht auf die menschliche Gesundheit entwickelte sich auch dort, wo man es nicht unbedingt erwartet – in der Küche.

Von der Philosophie zur Medizin

„Was mich zudem besonders interessiert ist die Verbindung von Philosophie und Medizin“, gibt Lenz einen näheren Einblick. Gesundheit und eine gute Lebensführung gingen schon in antiken Betrachtungen Hand in Hand. In diesem Sinne sei die Philosophie auch als Anleitung zum „guten Leben“ zu sehen. Doch aus medizinischer Sicht war der ganzheitliche, theoretische Blick auf die menschliche Existenz nicht immer hilfreich. „Wie kommt man raus aus der Idee, dass man immer gleich das Ganze erklären muss?“ Erst nach und nach habe die Wissenschaft dazugelernt und sei von philosophischen Betrachtungen über Gott und die Welt zu empirischen Ansätzen gekommen, die gezielt körperliche Reaktionen beobachten. „Spannenderweise entstand dieses methodische Umdenken auch in den Küchen“, erinnert der Forscher an einen frühen Experimentierraum. „Denn wo gekocht wird, geht es nun einmal um Leben und Tod.“

Verstehen besser verstehen

In Hagen hat Lenz nun die Chance, sein Lehrgebiet neu auszurichten. „Ich sehe Philosophie als eine Form von Teamarbeit. Es geht also nicht nur um meine Vision“, stellt der Forscher vorweg klar. „Was mich angeht, möchte ich mich verstärkt dem Phänomen des Verstehens zuwenden – auf drei Weisen.“ Erstens möchte er den „Zusammenbruch des Verstehens“ erforschen, unter anderem, indem er Konzepte von Wahnsinn und Normalität untersucht. Zweitens interessiert ihn die Frage nach der „Rationalität von Debatten“; hier zum Beispiel die oft gescheiterte Diskussionskultur auf Online-Plattformen. „Drittens möchte ich mehr über das Lesen erfahren. Wir lernen auf eine bestimmte Art zu lesen – und dabei kann auch einiges schief gehen“, erklärt Lenz. So wird im klassischen Deutschunterricht zum Beispiel ein bestimmtes Textverständnis abgefragt, abweichende Interpretationsmöglichkeiten kaum berücksichtigt. „Hier würde ich auch gerne mit lokalen Schulen zusammenarbeiten und das Ganze als praktisches Projekt angehen.“

Leidenschaftlicher Jazz-Musiker

Was begeistert den Philosophen abseits seiner wissenschaftlichen Arbeit? „Das ist schwer zu sagen – die Philosophie hat immer alles gerahmt“, lacht Lenz. Eine große Leidenschaft, die zweitweise sogar direkt mit der Wissenschaft konkurriert hat, verrät er dann doch: „Ich habe mich früher entscheiden müssen: Musik oder Philosophie. Die Frage ist inzwischen entschieden, aber ich mache noch immer viel Musik, vor allem Jazz.“ Das freie Musizieren mit Gitarre oder Klavier macht ihn glücklich – einen Schulterschluss zur Philosophie gibt es am Ende aber doch: „Das Nachdenken über Musikunterricht, über Improvisation und musikalische Interaktion, all das gibt mir auch sehr viel philosophisch.“

 

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Benedikt Reuse | 27.05.2024