Reichtum: Eine Herausforderung für die Gesellschaft
Eine Ringvorlesung der FernUni beleuchtet das Phänomen Reichtum. Prof. Alexandra Przyrembel und Prof. Hans-Jörg Schmerer holen dazu Experten an verschiedene Campusstandorte.
Reichtum und soziale Ungleichheit sind Themen, die seit jeher die Gesellschaft bewegen. Während einige Menschen in Wohlstand leben, kämpfen andere täglich um ihre Grundbedürfnisse. In vielen Ländern ist die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten dramatisch gewachsen. „Das sehen wir weltweit in allen Ökonomien, sowohl in entwickelten als auch in Ländern des globalen Südens“, differenziert Prof. Dr. Hans-Jörg Schmerer, Wirtschaftswissenschaftler von der FernUniversität in Hagen. „Ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung verfügt über einen Großteil des Vermögens, während die Mehrheit mit begrenzten Ressourcen auskommen muss.“ Das Thema Reichtum ist brisant. Es berührt Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung.
Wirtschaftswissenschaft trifft Kulturgeschichte
„Meist werden Kapital, Eigentum oder Geld als volkswirtschaftliche Kategorien begriffen, ohne dass die Entstehung kultureller Begriffe wie Reichtum oder Vermögen reflektiert wird“, bemängelt Prof. Dr. Alexandra Przyrembel, Inhaberin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne. Als Kulturhistorikerin interessiert sie besonders, wie „Superreiche“ innerhalb dieser Epoche als soziale Gruppe in Erscheinung treten und von anderen wahrgenommen werden. Interessant ist für sie auch der Luxuskonsum: „Diese Inszenierungspraktiken werden von anderen sozialen Gruppen wahrgenommen, diskutiert und bekämpft. Die Zuordnung ist aber nicht immer ganz einfach.“
Campusstandorte und Livestream
Weil Reichtum als Phänomen eng verknüpft ist mit Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Macht, kam Alexandra Przyrembel die Idee zu einer mehrteiligen Vortragsreihe, die sie zusammen mit Hans-Jörg Schmerer konzipiert hat: „Reichtum: Zwischen Skandalisierung und Unsichtbarkeit. Geschichte, Struktur und Symbolik eines kulturellen Phänomens“. Jede Vorlesung setzt einen anderen disziplinären Schwerpunkt und diskutiert Reichtum aus Perspektive der Wirtschaftswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Philosophie. Auch die Veranstaltungsorte wechseln. „Wir möchten mit vielen anschaulichen Beispielen zu diesem zentralen und kontroversen Thema unserer Gegenwart möglichst viele Menschen erreichen und haben uns deshalb dazu entschieden an den Campusstandorten Berlin, Frankfurt, Nürnberg und Hagen mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen“, erklärt Przyrembel. „Wer nicht vor Ort dabei sein kann, hat die Möglichkeit, die Veranstaltung über einen Livestream zu verfolgen.“
Elite in China wächst
Der Inbegriff wachsenden Reichtums ist derzeit China. „China hat in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung erlebt, was zu einem erheblichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts und zu einem insgesamt gestiegenen Lebensstandard geführt hat“, fasst Prof. Schmerer, Inhaber des FernUni-Lehrstuhls für Internationale Ökonomie, zusammen. „Allerdings gibt es Anzeichen für eine wachsende Kluft zwischen der reichen Elite und dem Rest der Bevölkerung. Korruption und mangelnde Transparenz können dazu beitragen, dass Reichtum und Macht in den Händen weniger konzentriert sind, was der politischen Führung in China sicherlich nicht gefällt.“ Ein aktuelles Beispiel ist das vorrübergehende Verschwinden einer der reichsten Chinesen überhaupt, Jack Ma. Der Gründer des Internetkonzerns Alibaba verschwand für längere Zeit nachdem er Kritik an der aktuellen Führung in Peking äußerte.
Reichtum und Antisemitismus
Welche Spannungen Reichtum, der zu gesellschaftlichem Ansehen führt, auslösen kann, zeigt sich besonders beispiellos im sich herausbildenden Antisemitismus des beginnenden 20. Jahrhunderts an dem klischeebehafteten Feindbild des „reichen Juden“. „Es ist äußerst wichtig, zu betonen, dass die Idee eines ‚reichen Juden‘ auf Stereotypen und Vorurteilen basiert“, betont Alexandra Przyrembel. „Uns beschäftigt in der Ringvorlesung die Frage, wie derlei antisemitische Zuschreibungen sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert haben.“ Anhand bekannter Beispiele wie dem NS-Film „Jud Süß“ und dem Fassbinder-Skandal wird die Beziehungsgeschichte von Reichtum und Antisemitismus sichtbar.
Von „Jud Süß“ zu Fassbinder
Der antisemitische Propagandafilm „Jud Süß“ wurde im nationalsozialistischen Deutschland produziert und basiert auf dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1925. Der Roman erzählt die Geschichte von dem jüdischen Finanzbeamten Joseph Süß Oppenheimer. „Der Film wurde als rassistische Propaganda genutzt, um antisemitische Stereotypen zu verbreiten und die Diffamierung der jüdischen Bevölkerung zu verstärken“, ordnet Przyrembel ein. „Die Darstellung der Hauptfigur in rassistischer und klischeehafter Weise trug zur Verfestigung von Vorurteilen bei.“ Ähnlich war es beim Werk „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder. Ursprünglich sollte es als Theaterstück 1976 in Frankfurt aufgeführt werden, wurde aber, da es ebenfalls als antisemitisch mit klischeehaft gezeichneten Figuren gilt, nach Protesten abgesagt.
Der globale Blick
Global betrachtet kann der Reichtum einzelner Individuen oder Unternehmen auch durch ungerechte wirtschaftliche Strukturen begünstigt werden. Steuervermeidung und undurchsichtige Finanzpraktiken ermöglichen es heutzutage, beträchtliche Vermögen anzuhäufen. Dies untergräbt nicht nur das Vertrauen in das Wirtschaftssystem, sondern beeinflusst in jeglicher Hinsicht das gesamte soziale Gefüge. Um dieser Herausforderung zu begegnen, sind umfassende Maßnahmen erforderlich. Für Hans-Jörg Schmerer liegen diese auf der Hand: „Eine gerechtere Steuerpolitik, die die Reichen stärker belastet, könnte dazu beitragen, Ressourcen für öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen. Gleichzeitig müssen Bildungschancen für alle Schichten der Gesellschaft durch diese Einnahmen verbessert werden, um einen Ausweg aus der Armut zu ermöglichen.“
Reichtum und Nachhaltigkeit
Unternehmen und Individuen sollten zudem eine größere Verantwortung für ihre soziale Rolle übernehmen. Eine stärkere Integration von Umweltaspekten und sozialen Belangen in unternehmerische Entscheidungen könnte zu einer ökologisch nachhaltigeren und sozial gerechteren Wirtschaft beitragen. „Die reichsten ein Prozent emittieren 16 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes, mit zunehmender Verschlimmerung der Klimakrise werden die sozialen Spannungen ebenfalls zunehmen“, bekräftigt der Wissenschaftler. Insgesamt erfordert die Bekämpfung von Reichtum und sozialer Ungleichheit eine koordinierte Anstrengung auf individueller, unternehmerischer und staatlicher Ebene. Eine Gesellschaft, die ihre Ressourcen fair teilt und jedem die Möglichkeit bietet, sein volles Potenzial zu entfalten, wird nicht nur wirtschaftlich erfolgreicher sein, sondern auch stabiler und gerechter für alle ihre Mitglieder.
Ringvorlesung Reichtum
Die Frage, was Reichtum bedeutet, auf welche Weise er gesellschaftlich verankert ist und wie er kulturell symbolisiert wird, bedarf unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven. Die interdisziplinäre Ringvorlesung der FernUniversität in Hagen widmet sich bis Juni 2024 dem Thema Reichtum einerseits als einem kulturhistorischen Phänomen und greift zugleich aktuelle Kontroversen rund um Fragen sozialer Ungleichheit auf. Zum Flyer
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