Erbe, Auftrag, Last? Hagener Köpfe teilen ihre Familiengeschichte
Eine Videoreihe der FernUni illustriert die bewegte Industriegeschichte Hagens: Fünf Nachfahren bekannter Unternehmensdynastien geben persönliche Einblicke in ihre Traditionslinie.
Wie es ist, einer alteingesessenen Hagener Industriellenfamilie anzugehören, das schildern fünf Nachfahren der Dynastien Harkort, Wälzholz, Osthaus und Eversbusch in persönlichen Videoporträts. Die Interviews auf YouTube sind ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Hagener Köpfe: Industrialisierungsgeschichte als Familiengeschichte“, das PD Dr. Eva Ochs von 2020 bis 2023 durchgeführt hat. Für die Historikerin der FernUniversität in Hagen war das Vorhaben eine Herzensangelegenheit: „Mich fasziniert einfach die Verbindung zwischen Familien und Unternehmen – das langsame Hineinwachsen, der Unternehmensalltag am Küchentisch.“ Warum treten am Ende doch so viele Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern? Wie fühlt es sich eigentlich an, einen so bekannten Familiennamen zu tragen? Und welche Rolle nehmen Frauen in der oft männerdominierten Unternehmensgeschichte ein? Als Wissenschaftlerin hat sie bereits viel zu solchen Fragen geforscht. So dreht sich etwa ihre Habilitationsschrift auch um Unternehmerfamilien im 19. Jahrhundert.
Hinzu kommt ein guter Schuss Lokalpatriotismus: „Ich lebe sehr gerne in Hagen. In der Stadt begegnet man diesen Familien auf Schritt und Tritt, zum Beispiel in Form vieler historischer Gebäude.“ Die Funcke-Fabrik, das Varta-Gelände, die Papierfabrik Vorster, die Elbershallen, die Brandt-Brache, die Villa Bechem, der Hohenhof, das Haus Harkorten – die Liste eindrucksvoller Baudenkmäler ließe sich noch lange fortsetzen.
Eva Ochs konnte Christoph und Peter Eversbusch, Karin Harkort, Dr. Toni Junius (Geschäftsführer von Wälzholz) und Martin Duthweiler (Urenkel von Karl Ernst Osthaus) für die Interviews gewinnen. Sie freut sich, dass sie die Geschichtsschreibung auf diese Weise bis zur Gegenwart fortführen konnte. Dabei war ihr wichtig, dass auch die breite Bevölkerung vom neuen Material profitiert. Judith Weiß und Sascha Senicer vom Zentrum für Lernen und Innovation (ZLI) der FernUni verdichteten die teils stundenlangen Aufnahmen deshalb zu fünf spannenden Videos. Das Ergebnis können sich alle Interessierten nun frei zugänglich anschauen. Finanziell gefördert wurde das Vorhaben von der Stadt Hagen und dem Regionalverband Ruhr (RVR) – jeweils mit 5000 Euro.
Institut für Geschichte und Biographie ist Vorreiter
Die ungekürzten Fassungen der Zeitzeugeninterviews sind wichtige Quellen für die Forschung. Fortan bewahrt sie das Archiv Deutsches Gedächtnis auf, das zum Hagener Institut für Geschichte und Biographie gehört. Das „IGB“ gilt als wesentliche Keimzelle eines erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes, der fragt: Wie haben Menschen Geschichte erlebt? Lebensgeschichtliche Interviews, die nach der sogenannten Oral-History-Methode geführt werden, helfen dabei, Antworten zu finden. Die Hagener Forschenden haben über die Jahrzehnte einen immensen wissenschaftlichen Schatz aufgebaut. So verwaltet das Archiv Deutsches Gedächtnis mittlerweile allein über 3.700 Videos – hinzu kommen andere Zeugnisse wie Briefe, Tagebücher oder schriftliche Lebenserinnerungen. Derzeit arbeitet das IGB daran, den wertvollen Bestand nach und nach zu digitalisieren und online verfügbar zu machen.
Zwischen Fabrik und Wohnzimmer
Die Videos porträtieren fünf verschiedene Persönlichkeiten – dennoch gibt es Gemeinsamkeiten in den Lebenswegen: „Der Prozess, wie man ins Familienunternehmen hineinwächst, ähnelt sich sehr“, vergleicht Eva Ochs. Die Sozialisation beginnt früh und auf scheinbar natürliche Weise: „Zum Beispiel waren sowohl die Nachkommen von Wälzholz als auch von Eversbusch schon als kleine Kinder in der Fabrik beziehungsweise Brennerei mit dabei.“ Die Kleinen schauen früh die Handgriffe der Väter ab, mischen sich unter die Arbeiter, fast als wären auch diese Teil der Familie. „Die Kinder sind ständig in den Betrieben präsent, saugen alles in sich auf, übernehmen dann später Ferienjobs bei ihren Eltern – das alles scheint fast automatisch zu passieren.“ Eine Trennung zwischen privater und geschäftlicher Sphäre, zwischen Heim und Arbeit gibt es eigentlich nicht. „Das Unternehmen strukturiert den gesamten Familienalltag.“
Wie funktioniert Nachfolge?
Doch nicht immer übernimmt der Nachwuchs sofort den Staffelstab. „Viele Söhne gehen erst einmal in eine andere Firma, lassen sich frischen Wind um die Nase wehen – und bringen ihre neue Erfahrung dann später wieder ins familiäre Unternehmen ein“, fasst Ochs zusammen. „Dieses Prinzip gab es schon im 19. Jahrhundert und wir finden es genauso in den aktuellen Biografien wieder.“ Bisweilen ähnelt das Familienunternehmen einer ständischen Adelsdynastie – mit allen damit verbundenen Fragen: Wie teilt man das Erbe nach dem Tod des Patriarchen gerecht auf? Was erscheint im familiären Sinne, was aus ökonomischer Sicht angemessen? „Es ist ein Spagat zwischen zwei Logiken: Familiäre Gerechtigkeit und betriebswirtschaftliche Rentabilität müssen auf ganz komplexe Art zusammengreifen.“ Konflikte sind hier vorgezeichnet und werfen manchmal bis heute ihre Schatten auf die Stammbäume.
Kampf durch unsichere Zeiten
Ohnehin sind die Familiengeschichten keine linearen Aufstiegserzählungen, sondern mindestens von einem Auf und Ab, teilweise auch von herben Einschnitten und Niederlagen geprägt. So büßte etwa die Dynastie der Familie Osthaus nach dem frühen Tod des Mäzens ihre immense wirtschaftliche und kulturelle Relevanz, die sie um die Jahrhundertwende aufgebaut hatte, fast vollständig ein. Derlei Entwicklungen lassen sich oft auch mit der allgemeinen Historie der Stadt in Beziehung setzen. „1914 stand die Stadt in voller Blüte“, erinnert Ochs. „Alle haben an Hagen geglaubt!“ Allerdings dämpften Ereignisse wie der Weltkrieg, die galoppierende Inflation oder die Ruhrbesetzung das Potenzial der industriell geprägten Region. Schwierige Fahrwasser, in denen sich auch die Hagener Unternehmerfamilien irgendwie zurechtfinden mussten. Einige gingen gemeinsam mit der Weimarer Republik unter – auch das ein Erbe, mit dem Nachfahren noch heute umgehen müssen.
Rolle der Frauen
Ein Aspekt, der die Historikerin besonders interessiert, ist die Rolle der Frauen. Denn freilich sind die weiblichen Persönlichkeiten mehr als nur „gute Partien“ mit fetter Mitgift. Oft stärken gerade Frauen das familiäre Rückgrat maßgeblich, halten die Dynastie im Hintergrund zusammen. „Sie übernehmen die Firmen zwar nicht, aber sind dennoch immer involviert.“ Auch die gesellschaftliche Strahlkraft der finanzkräftigen und gebildeten Frauen ist nicht zu vernachlässigen: „Manchmal wirken sie zum Beispiel als Mäzeninnen im sozialen Bereich.“
Dank an Förderer und Mitstreiter
Eva Ochs freut sich über die große Unterstützung, die ihr Projekt innerhalb und außerhalb der Hochschule erfahren hat. Zum Dank überreichte sie gemeinsam mit dem Transferbüro der FernUniversität Urkunden an Dr. Tayfun Belgin, Leiter des Fachbereichs Kultur der Stadt Hagen und Direktor des Osthaus Museums, sowie an Thorsten Kröger, Leiter des Büros der Regionaldirektorin des RVR. Die fertigen Filme werden in verschiedene museale Projekte einbezogen – etwa in der Route Industriekultur des RVR. „Außerdem setzen wir die Filme natürlich in der FernUni-Lehre ein“, verspricht Eva Ochs. „Erfahrungsgemäß interessieren sich unsere Studierenden sehr für das Thema.“