Nicht jedes Mal bei null anfangen

Mit Gesundheitsdaten muss die Gesellschaft nachhaltig umgehen, findet FernUni-Professor Till Winkler. Was erhöht die Akzeptanz gegenüber digitalen Lösungen im Gesundheitswesen?


Foto: Volker Wiciok
Prof. Till Winkler forscht zu digitalen Neuerungen im Gesundheitswesen.

Nachhaltigkeit, das heißt verantwortungsvoll mit Ressourcen umzugehen. Statt sie mit Blick auf kurzfristige Ziele zu verschwenden, sollten sie einen anhaltenden Nutzen bringen – ein einleuchtendes Prinzip für den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Prof. Dr. Till J. Winkler von der FernUniversität in Hagen liegt jedoch eine weitere Dimension am Herzen: „Wir sollten den Begriff der Nachhaltigkeit auch auf die Datennutzung ausweiten – gerade im Kontext der Gesundheit.“ Als Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Informationsmanagement hält Prof. Winkler das deutsche Gesundheitssystem fest im Blick. „Es gibt viele interessante Entwicklungen in Deutschland, gleichzeitig ist die Akzeptanz gegenüber neuen Gesundheitstechnologien noch relativ gering – sowohl bei den Patientinnen und Patienten, als auch bei der Ärzteschaft.“ In diesem Spannungsfeld setzt die Forschung des Wirtschaftsinformatikers an.

Verbaute Möglichkeiten

Der Forscher regt an, in größeren Zeiträumen zu denken: „Inwieweit schränken wir die zukünftigen Möglichkeiten von Patientinnen und Patienten und nachfolgenden Generationen ein, indem wir bestimmte Daten nicht erfassen?“ Viel zu oft komme es vor, dass Ärztinnen und Ärzte mit ihren Diagnosen wiederholt bei null anfangen. Das ist besonders gravierend, wenn es um medizinische Notfälle oder lebenswichtige Eingriffe geht. Als Beispiel nennt Winkler eine Patientin mit Herzproblemen: Ihre vergangenen Operationen sind nicht in einer einheitlichen digitalen Akte aufgeführt, sondern bloß in einer Zettelwirtschaft aus gedruckten Arztbriefen. Der Arzt muss sich alles selbst zusammensuchen, ist auf die wohlmöglich bruchstückhafte Erinnerung der Patientin angewiesen. „Der Arzt ändert dann dreimal seine Diagnose und ist sogar überrascht über Eingriffe, die schon im eigenen Krankenhaus vorgenommen wurden.“ Vergebene Chancen – nicht nur im akuten Fall, sondern auch mit Blick auf die langfristige Gesundheit: „Was verpasse ich eigentlich in 20 Jahren an Behandlungsmöglichkeiten, wenn meine Daten im heutigen Prozess nicht nachhaltig erfasst werden?“

Bild: KI-Bildgenerator Dall E 2
Unnötiger Ballast? Oft muss sich medizinisches Personal durch zahllose Akten wühlen, um sich hinreichend zu informieren.

Internationaler Vergleich

Wie es besser laufen kann, zeigt ein Blick nach Skandinavien. „In Dänemark gibt es zum Beispiel schon lange eine sehr fortschrittliche elektronische Patientenakte mit webbasierter Plattform und App für alle“, berichtet Winkler aus eigener Erfahrung. Bevor er 2021 an die FernUniversität kam, war er für sieben Jahre Professor an der Copenhagen Business School. Dänemark hatte seiner Ansicht nach einen gewissen Startvorteil: „Das Land ist kleiner, das Gesundheitssystem viel zentralisierter und durch die Regionen öffentlich organisiert. In Deutschland ist die Struktur viel fragmentierter.“ Der deutsche Pluralismus aus privaten und staatlichen Versicherungen sei sicher ein Hemmnis, doch kein K.O.-Kriterium: „Ich finde hier den Vergleich mit den USA sehr spannend“, betont Winkler, der 2013 auch am Stevens Institue of Technology in New Jersey geforscht hat. „Das US-amerikanische System ist ebenfalls sehr pluralistisch. Trotzdem ist dort einiges passiert.“ So habe die Obama-Administration konkurrierende Krankenhausunternehmen und Klinikverbünde dazu gebracht, an einem Strang zu ziehen und ihre Daten miteinander zu teilen.

Bereit für die App auf Rezept?

Doch was könnte in Deutschland die Akzeptanz gegenüber einheitlichen, digitalen Lösungen erhöhen? Zu dieser Frage stellen Prof. Winkler und sein Team konkrete Untersuchungen an. Im interdisziplinären Forschungsschwerpunkt Arbeit – Bildung – Digitalisierung (ABD) der FernUniversität dreht sich zum Beispiel ein Projekt darum, wie fit die deutsche Ärzteschaft beim Verschreiben digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGAs) ist. „Viele berichten, dass ihnen noch die Erfahrung im Umgang mit DiGAs fehlte“, so Winkler über die noch spärliche Nutzung der sogenannten Apps auf Rezept. „Wir entwickeln deshalb einen virtuellen Patienten, der die Offenheit gegenüber DiGAs fördern soll.“ Diese Lerntechnologie soll einen spielerischen Zugang schaffen und könnte idealerweise mit gamifizierten Elementen auch schon in der medizinischen Ausbildung zum Einsatz kommen. Der virtuelle Patient simuliert ungewöhnliche Situationen, ist kritisch und fragt zum Beispiel nach dem Verbleib von Daten. Die Ärztinnen und Ärzte können so live trainieren: „Es ist eben etwas anderes, ob man eine Pille aus der Apotheke oder eine App verschreibt.“

Studierende forschen mit

Ein anderes Projekt bezieht die Studierenden direkt in die Feldforschung ein. Im Rahmen eines Seminars nimmt sich der Lehrstuhl Winkler das Thema elektronische Patientenakten (ePAs) vor. „Den größten Nutzen von einer ePA haben wahrscheinlich Personen, die häufiger in gesundheitliche Behandlung müssen – sprich Risikogruppen, chronisch Kranke und ältere Menschen“, erklärt Winkler. „Gleichzeitig fällt denen die Technologie-Nutzung wohl am schwersten.“ Im Experiment führen die Studierenden ein Gespräch über die ePA zwischen älteren und jüngeren Angehörigen herbei. Die Jüngeren sollen auf mögliche Bedenken reagieren und erklären. Das Gespräch wird aufgezeichnet und von den Studierenden analysiert. Am Ende steht die Frage, inwiefern der kommunikative Austausch die Haltung zur ePA beeinflusst. Darin schwingt auch eine gewisse psychologische Komponente mit: „Es geht immer auch um die Frage, wie man die Apps in die Fläche bringen kann, wie man Kampagnen gestalten sollte“, überblickt der Wirtschaftsinformatiker seine verschiedenen Forschungsprojekte. „Müssen wir in der Bewerbung zum Beispiel über die Ärzteschaft, über Patientinnen und Patienten oder doch über Dritte gehen?“

Tagung zum Thema

Um das Thema zu vertiefen, lud Till Winkler im Mai im Rahmen der Tagungsreihe Nachhaltiges Wirtschaften gemeinsam mit dem Forschungsschwerpunkt ABD zu einem Symposium ein: „Nachhaltigkeit und Digitalisierung im Gesundheitswesen“. Auch hier plädierte der FernUni-Professor dafür, den Nachhaltigkeitsbegriff auf Daten auszuweiten. Seinen Apell flankierten verschiedene Vortragsgäste – unter anderem als Keynote-Speaker Prof. Dr. Jochen A. Werner, CEO Universitätsmedizin Essen und erfolgreicher Autor. „In seinem Buch ‚So krank ist das Krankenhaus‘ spricht er von einem Tod durch Datenschutz“, resümiert Winkler. „Demnach sollten wir aufhören, nur über den Schutz von Daten nachzudenken und hinkommen zu einem Recht auf Datennutzung.“

Videoaufzeichnung der Veranstaltung

 

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Benedikt Reuse | 01.06.2023