„Die Universität noch näher zu den Menschen bringen“

Von 2016 bis 2024 war Prof. Dr. Ada Pellert erste Rektorin in Hagen. Im Interview spricht sie über ihre Zeit an der FernUniversität und deren Zukunftsperspektiven.

Foto: Volker Wiciok

Liebe Frau Pellert, vor achteinhalb Jahren haben Sie hier an der FernUniversität als Rektorin angefangen. Wissen Sie noch, was Sie sich damals vorgenommen haben?
Pellert:
Ganz wichtig war mir, die FernUniversität als forschende Universität sichtbar zu machen und die Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen des Hochschulsystems einzubringen, um weiter am Lehr-Lern-Modell zu arbeiten.

Und sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben?
Pellert:
Partiell ja. Am Anfang gab es noch viel Diskussion darüber, ob man wirklich Forschungsschwerpunkte bilden soll und was das für den Einzelforscher, die Einzelforscherin bedeutet etc. Über das gemeinsame Erleben hat man erkannt, dass es schon hilfreich ist, wenn es zusätzliche Ressourcen und eine forschungsfreundliche Struktur gibt. Beim für die FernUniversität wirklich erfolgskritischen Thema des Lehr-Lern-Modells hat es mich sehr bestärkt, dass wir im neuen Hochschulentwicklungsplan bewusst gemeinsam mit allen Fakultäten einen Schwerpunkt auf Lehre gesetzt haben. Ich habe das Gefühl, dass die FernUni auf einem guten Weg ist.

Die Forschungsschwerpunkte sind an der FernUniversität alle fakultätsübergreifend aufgestellt, das ist eine Besonderheit. Warum war Ihnen das wichtig?
Pellert:
Angesichts der im Vergleich zur Studierendenzahl doch sehr mageren Ausstattung mit Professuren muss man intelligent clustern und eine Stärke daraus machen, dass die Wege zwischen den Fakultäten kurz sind. Für die meisten gesellschaftlichen Probleme ist eine interdisziplinäre Herangehensweise notwendig. Das ist eine Stärke der FernUniversität, das ist in großen Häusern mit riesigen Fachfakultäten viel schwerer zu organisieren. Der erste Forschungsschwerpunkt, aus dem das Forschungszentrum CATALPA hervorgegangen ist, behandelt ein Thema, das viele an der FernUniversität umtreibt: die Erforschung des diversen, lebenslangen digitalen Lernens, das jetzt bei uns den Fokus des adaptiven, technologieunterstützen Lernens gefunden hat. Das zweite große Thema, das bereits in vielen Fakultäten verankert war, war Umwelt, Energie, Nachhaltigkeit. Es ist einfach so, dass man über Schwerpunkte die FernUniversität leichter als forschende Universität wahrnehmen kann.

Die FernUniversität hat eine besondere Mission. Sie hat besondere, oft nicht einfache Strukturen und Finanzierungen.

Hat die Einrichtung der Forschungsschwerpunkte auch ein Stück weit der Selbstfindung gedient?
Pellert:
Ja, genau. Am Anfang jeder Etappe einer Universitätsentwicklung muss die Frage stehen: Wer sind wir, was macht uns aus, was wollen wir? Mir war immer ganz wichtig, die Fakultäten in diesem Prozess sehr aktiv einzubeziehen. Ich glaube, da ist durch gute, regelmäßige Kommunikation etwas in Schwung gekommen in der Kollaboration zwischen Rektorat und Fakultäten. Man muss Vertrauen fassen. Ich glaube, das hat uns auch bei vielen anderen Themen geholfen. Zusätzlich war noch die Selbststeuerungsfähigkeit der Einrichtung wichtig. Die FernUniversität hat eine besondere Mission. Sie hat besondere, oft nicht einfache Strukturen und Finanzierungen. Umso wichtiger ist es, dass sie sehr modern und selbstbewusst und flexibel agiert.

Sie haben ja schon angesprochen, dass die FernUniversität im Verhältnis zur Studierendenzahl eine relativ kleine Einrichtung ist. Hat das die Arbeit erleichtert, weil man vielleicht flexibler ist, oder erschwert, weil man nicht so viel Personal hatte?
Pellert:
Beides ist richtig. Es ist eine Universität, an der man gut ins Gespräch kommen kann. Da ist es ein Vorteil. Aber ein Nachteil ist diese zum Teil verrückte Ressourcenausstattung, wenn man die Betreuungsrelationen anschaut, wenn man ansieht, dass man im Feld Forschung mit anderen Universitäten im Wettbewerb steht, die zehnmal so gut ausgestattet sind. Deswegen war es mir insbesondere ein Anliegen, mehr Professuren an die FernUniversität zu holen.

Ist das gelungen?
Pellert:
Ich glaube schon. Es könnte immer mehr sein, aber es waren ja doch round about 30 Millionen Euro zusätzlich für verschiedene Weiterentwicklungen in der Forschung, aber eben auch in der Lehrunterstützung. Diese zusätzlichen Ressourcen haben geholfen, bestimmte Themen überhaupt in Angriff nehmen zu können, im Transfer, in der Chancengerechtigkeit, in der Regionalentwicklung, im Außenauftritt.

Foto: Volker Wiciok
Die Rektorin begegnet ihrer virtuellen Doppelgängerin im Immersive Collaboration Hub der FernUniversität.

Regionalentwicklung und FernUniversität: Ist das kein Widerspruch?
Pellert:
Ich erlebe in der Hochschulentwicklung der letzten Jahre, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen internationaler forscherischer Anerkennung und regionalem Wirksamwerden. Man kann auch sehr gut an regionalbezogenen Projekten interessante Forschung zeigen. Und gleichzeitig erwartet eine Region auch von einer FernUniversität, dass sie einen Impact in der Struktur- und Gesellschaftsentwicklung macht. Deswegen haben wir uns dort in den letzten Jahren sehr engagiert.
Gleichzeitig ist es keine ausschließlich regionale Universität und sollte es auch nie sein, sondern sie ist eben auch eine internationale und vor allem eigentlich nationale Einrichtung. Ich habe versucht, durch viele Kontakte, Vorträge, Aktivitäten, die nationale Bedeutung der FernUniversität sichtbar werden zu lassen. Da hat uns natürlich die Coronapandemie geholfen, denn plötzlich war mehr Interesse für eine Universität da, die schon viel länger Erfahrung hat mit einer Aufgabe, die jetzt alle hatten, nämlich Distanzlernen.
Auch meine Tätigkeit im Digitalrat der deutschen Bundesregierung hat geholfen. Ich konnte mit vielen Persönlichkeiten Gespräche führen und ihnen zeigen, was die FernUniversität leistet. Das hat zumindest auch dazu geführt, dass der eine oder andere Auftrag von einem Ministerium kam. Die große Bundesfinanzierung hat es noch nicht gebracht, aber das hängt auch in meinen Augen an einer Nicht-Kooperation zwischen Bund und Ländern.

Worin liegt denn die nationale Bedeutung der FernUniversität?
Pellert:
Ich sehe auch im internationalen Vergleich: Wir sind eine der großen Fernuniversitäten Europas, auch weltweit. Wir stehen für eine forschungsbasierte, deutschsprachige Tradition der Universität und haben da eine sehr anerkannte Position, die man für die internationale Sichtbarkeit Deutschlands viel besser nutzen könnte.

In dem Zusammenhang ja geradezu ein Geschenk, dass wir jetzt im Verbund OpenEU als Teil einer Europäischen Universitätsallianz von der EU gefördert werden.
Pellert:
Genau. Das Feld der Open University, der Fernuniversitäten Europas, das war noch ein blinder Fleck. Die haben eine ganz spezifische wichtige Rolle in Europa, in dem es immer stärker um lebensbegleitendes Lernen geht, um die Durchlässigkeit zum Arbeitsmarkt, um Weiterqualifikation, Fachkräftemangel.

Wir sind eine der großen Fernuniversitäten Europas, auch weltweit. Wir stehen für eine forschungsbasierte, deutschsprachige Tradition der Universität und haben da eine sehr anerkannte Position.

Sie haben sich vor einigen Jahren auch konzeptionell eingebracht, mit dem Begriff New Learning und mit dem Hagener Manifest. Warum war Ihnen das so wichtig?
Pellert:
Durch Corona wurde die Frage dringlich: Wie macht man das eigentlich – Distanzlernen? Da konnten wir unsere 50-jährige Erfahrung ausspielen und sagen: Achtung, das ist nicht hauptsächlich ein technisches Problem. Das war sozusagen unser Motiv. Ja, natürlich: Ich brauche gutes Equipment, ich brauche die digitalen Tools, ich brauche Videokonferenzen, Hard- und Software. Aber am Ende des Tages, das zeigt die Erfahrung der FernUniversität, geht es darum: Wie organisiert man eigentlich gutes Lernen in diesen Rahmenbedingungen? Das wird im New- Learning-Manifest mit seinen zwölf Thesen ausformuliert. Die FernUniversität steht für ein orts- und zeitunabhängiges Studium. Sie steht für eine diverse Studierendenschaft. Sie will dieses Studium Menschen in allen Lebenslagen ermöglichen. Ja, sie ist eine Ermöglicherin und möchte als Universität zu den Menschen kommen, niedrigschwellig sein, das ist unsere Mission. Lebensbegleitendes Lernen in allen Lebensphasen. Wenn ich diese Mission ernst nehme, dann sind Bildungstechnologien ein Geschenk. An der Wiege der FernUniversität standen immer technologische und mediale Möglichkeiten. Im Zeitalter des Digitalen ist klar, dass sich eine Einrichtung wie die unsere ganz anders, intensiver, forscherisch und im Lehrbetrieb damit auseinandersetzen muss. Das ist auch in unserer DNA. Auf der Ebene der Organisation, aber auch für die einzelnen Lehrenden. Die FernUniversität tritt an, um Lebenschancen zu eröffnen, Menschen zu begleiten bei ihrer Entwicklung in einem zunehmend digitalen Umfeld. Es ist wichtig, dass wir diese Menschen dafür auch kompetent machen, damit sie nicht erschlagen werden von diesen Möglichkeiten, sondern über das Studium auch in Berührung kommen und damit üben können.

Sie sind die erste Rektorin hier an der FernUniversität gewesen. Wie haben Sie die Universität damals vorgefunden, was das Thema Gleichstellung angeht, und wo steht sie jetzt?
Pellert:
Zum einen habe ich schon, als ich kam, eine gute Gleichstellungsarbeit vorgefunden, also sehr engagierte Kolleginnen. Geschlecht ist eine Diversitätsdimension, mir war es wichtig, diese stärker mit anderen Dimensionen zu verknüpfen: Wir haben hier eben auch das Alter. Viele studieren zum ersten Mal, wir haben Migrationshintergrund, wir haben Beeinträchtigungen. Es ist die vielfältigste Universität dieser Republik. Gleichzeitig muss man bei begrenzten Ressourcen sehr genau schauen, wie kann ich überzeugend mit diesen Unterschieden arbeiten? Deswegen intensivieren wir die Forschung an maschinengestütztem Lernen und adaptivem Lernen, in Umgebungen, in denen ich stärker personalisieren kann mithilfe technologischer Unterstützung. Das wäre der Traum: Privatgelehrte für jede und jeden Einzelnen. Das müssen wir heute durch gute Lernarrangements und Unterstützungsmöglichkeiten technologischer Natur versuchen zu erreichen.

Foto: FernUniversität
Der FernUni-Campus wächst: Ada Pellert beim Spatenstich für den Neubau der Fakultät für Psychologie im Sommer 2022.

Hagen nennt sich auf der einen Seite sehr stolz „Stadt der FernUniversität“, ist auf der anderen Seite aber eben keine klassische Universitätsstadt wie Heidelberg usw. Wie haben Sie in Ihrer Zeit als Rektorin den Austausch mit der Stadtgesellschaft erlebt?
Pellert:
Gut, neugierig. Am Anfang stand immer der Vorwurf: Warum merkt man von dieser Uni nicht mehr? Verbunden mit etwas romantischen Vorstellungen. Auch wenn hier alle in Präsenz studieren und alle Lehrenden und Studierenden hier leben würden, dann würden wir aus Hagen kein Heidelberg machen. Die FernUniversität ist eine der größten Arbeitgeberinnen. Sie prägt das Image, einfach schon durch ihre Existenz. Wir wollten aber mehr. Wir wollten in konkreten Kooperationen zwischen Universität und Stadt Themen weiterbewegen. Man muss sich auf die wechselseitige Logik einlassen. Aber ich denke, da sind doch ein paar Dinge gelungen und es ist vor allem ein Weg beschritten, der nicht mehr so schnell umkehrbar sein wird.

Stichwort Zukunft: Ihnen war wichtig, das Jubiläum nicht als Rückschau anzulegen, sondern mit Blick nach vorn unter dem Motto „An jedem Ort der Zukunft nah“. Was hat Sie dazu bewogen?
Pellert:
Es soll kein Entweder-Oder sein. Wir wollen ab November 2024 ein Jahr lang den Scheinwerfer auf verschiedene Aspekte der FernUniversität lenken. In dem Jahr wird auch genügend Platz sein für die Würdigung der Vergangenheit. Zum Beispiel werden wir am 12. Juni 2025 die Geschichte der FernUniversität in einem großen politischen Salon beleuchten. Den Auftakt beim Dies Academicus möchten wir aber nutzen, um zu zeigen, was für eine moderne Mission wir nach wie vor haben und welche spannenden Entwicklungen es an der FernUniversität gibt.

Wie sieht denn Ihr Bild von der Zukunft der FernUniversität aus?
Pellert:
Diese Netzwerkstruktur, dieses verteilte System mit den Campusstandorten in der ganzen Republik, ins Internationale zu verlängern, das wäre eine wichtige Entwicklung. Die Universität noch näher zu den Menschen zu bringen. Das halte ich schon für zentral. Das hat ja auch das New-Learning-Manifest versucht zu sagen: Die Vision im 21. Jahrhundert ist, dass ich Forschung, Lernen, Wissenschaft verknüpfe mit dem Leben der Menschen.
Ich halte es für eine große Stärke der FernUniversität, dass sie es in 50 Jahren mit ihrem quer zum sonstigen Hochschulsystem liegenden Auftrag, und einer Ressourcenausstattung, die einfach nicht dem Auftrag gerecht wird, trotzdem immer wieder schafft, sich so neu zu erfinden, dass sie immer wieder Menschen anspricht und weiterentwickelt. Deswegen war auch einer meiner Glücksmomente in diesem Jahr die gemeinsame Zukunftswerkstatt, wo wir uns Zeit genommen haben, um zu besprechen: Was ist in fünf bis zehn Jahren? Da waren einfach ganz viele engagierte Menschen im Raum, die das auch querbeet zu den Fakultäten, zu den Generationen, zu den Bereichen verbalisieren können. Wir sehen es ja auch: Wir sind eine der wenigen öffentlichen Universitäten, die wachsen.

Die Vision im 21. Jahrhundert ist, dass ich Forschung, Lernen, Wissenschaft verknüpfe mit dem Leben der Menschen.

Wenn wir abschließend noch einmal zurückblicken auf die vergangenen achteinhalb Jahre: Woran wird sich die FernUniversität erinnern, wenn sie an Ada Pellert denkt?
Pellert:
Ich hoffe, dass sie versucht, weiterhin gute Kommunikationsformen zu pflegen. Also ein bissl kreativ zu sein: Wie kommt man und bleibt man im Gespräch? Da haben wir ein paar Sachen ausprobiert, dann doch sehr unterbrochen durch eine lange Pandemie. Es wäre wichtig, da dranzubleiben.
Und zu sagen: Achtung, die Konkurrenz schläft nicht. Alert zu sein, sich dem auch zu stellen und daran zu arbeiten, dass man eben da an der Spitze der Bewegung und der neuen Entwicklungen ist. Das war mein Versuch, sich nicht mit traditionellen Präsenzuniversitäten zu vergleichen, sondern zu sagen: Nein, wir haben eine spezifische Mission, und in der sind wir die Besten.

Gibt es einen oder vielleicht mehrere Orte an der FernUniversität, mit denen Sie besonders verbunden sind, oder die für Sie eine besondere Wichtigkeit haben?
Pellert:
Für die Kommunikation in Präsenz und im Kleinen ist die Villa wunderbar. Jetzt der neue Immersive Collaboration Hub, das wird sicher ein Ort, an dem es gelungen ist, neueste Technologie und niedrigschwelligen Zugang zu dieser mit einer sehr einladenden Atmosphäre über gute Architektur zu verknüpfen.

Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie vermissen werden?
Pellert:
Ich war ja wirklich gerne hier. Ich finde die Mission der FernUniversität sehr überzeugend. Das Haus ist voll mit vielen Menschen, die diese Mission teilen und deswegen eine sehr enge Bindung entwickelt haben. Ich war auch gerne in NRW, weil ich gerade diese Diversität hier schätze. Das ist einfach ein sehr diverses und dichtes multikulturelles, großes Land, mit trotz allem freundlichen Menschen, wo ich immer denke, da könnten andere etwas von lernen, die ganz viel Fläche für sich allein haben und sich trotzdem abschotten von anderen. Auf engstem Raum schafft man es hier doch bei allen Schwierigkeiten, einen netten, guten Umgang zu pflegen, das ist für mich prototypisch. Das sind Menschen, die sich auf den Weg machen und die was anpacken, ob das jetzt unsere Studierenden sind oder die in der Umgebung. Das ist einfach eine Stärke der Region, die ich vom ersten Tag an gespürt habe. Irgendwie passt die FernUniversität auch gut hier hin. Hier studieren und arbeiten Leute, denen es nicht allen in die Wiege gelegt wurde, einen akademischen Weg einzuschlagen, aber die es trotzdem wissen wollen. Diese Biografien sind nach wie vor für mich das Beeindruckendste.

Das nehme ich mal stellvertretend für alle Menschen hier aus der Region als Kompliment. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Stephan Düppe.


Fernglas-2024-cover

Beitrag aus dem Wissenschaftsmagazin fernglas 2024/2025.
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