Lavinia Wilson
Schauspielerin, Philosophie-Studentin
Lavinia Wilson ist schön, auf eine irdische, mädchenhafte Art. Sie ist dieser Typ mit rötlichen Haaren, zart, Sommersprossen, blass. Eine zerbrechliche Person. Aber sie schwebt nicht, man muss sie nicht beschützen. Ihr Gesicht ist keines dieser markanten, die man niemals vergisst: So vieles kann es deshalb ausdrücken. Lavinia Wilson ist Schauspielerin, mit 26 Jahren hat sie bereits zahllose Filme gedreht. Sie hat schwierige, abgründige Frauen verkörpert wie die Maria im Kinofilm „Allein“, für deren Darstellung sie den Max-Ophüls-Preis bekam. Sie war das Opfer im Tatort. Und sie hatte viele, viele Standardrollen der routinierten Fernsehunterhaltung. Im echten Leben ist Wilson eine strapazierfähige, sichere, selbstverständliche Person.
Das liegt daran, dass sie kein fertiger Mensch ist, selbstbewusst zwar, aber nicht satt. Hintergründig, aber nicht verbissen, nachdenklich, aber ganz unkompliziert. An der FernUniversität studiert sie Philosophie, Geschichte und Soziologie auf Magister. Sie wird gerade mit dem Grundstudium fertig. Im Gespräch mag man sie gleich: Schnell findet sie gemeinsame Themen, sie behält die Initiative, ungekünstelt und fröhlich mit ihrem riesigen grünen Schal. Genussvoll raucht sie, denkt über Antworten nach, macht Pausen. Und redet doch wie angestochen, viel und enorm schnell. Die Situation ist Routine für sie, nicht unangenehm. Man nennt sie Nachwuchsschauspielerin. Sie hat mehr als 20 Filme gedreht. Ihre erste Rolle hatte sie mit elf. Das macht: 15 Jahre Berufserfahrung.
Deshalb sagt sie selbstverständlich wie wenige 26-Jährige: „Einen Beruf habe ich ja.“ Der wird bleiben. Das Studium ist ein Luxus, den sie sich zusätzlich leistet – weil Philosophieren eine der sinnvollsten Tätigkeiten überhaupt ist, wie sie ganz entschieden findet. Einem Luxus gibt man sich hin: Lavinia Wilson hat eine Lerngruppe gefunden, die aus der Arbeit einer Mentorin im Berliner Studienzentrum hervorging. Diese Gruppe trifft sich regelmäßig, sie arbeiten Kurse durch und sich an Themen ab, tauchen manchmal für Wochen in die Materie ein und knacken auch ganz sperrige Fragen.
Für ihren Beruf, mit dem sie so selbstverständlich lebt, bringt Wilson vielleicht noch größere Leidenschaft auf, die guten Filme liegen ihr am Herzen. Es ist ein bizarrer Beruf, den sie da fast immer schon hat. „Bescheuert“, sagt sie selbst: „Wer macht so einen Job? Man liefert sich aus, man lässt sich aussaugen und macht sich total verfügbar. Ich habe extreme, intensive Arbeitsphasen und seltsame Arbeitszeiten. Und dann Monate zu Hause, in denen nichts passiert.“ Es ist ein sehr unregelmäßiges Leben. „Das Studium gibt da schon eine bestimmte Struktur, es holt mich zurück“, erklärt sie. Sie nennt es Erdung. Und würde kein anderes Leben wollen.
Die Pole: unwegsame, extreme Charaktere – und leichte Fernsehunterhaltung. Als Schauspielerin die zehrende Arbeit mit ihrer ganzen Person, als Studentin das stille Eindringen in den Text. Natürlich kommt Wilson aus einem Akademiker-Elternhaus, und sie war auf einem Gymnasium, das sich als elitär versteht. Erst aus dem selbstverständlichen Umgang mit dieser Kaste kann ihre Distanz dazu entspringen, ihre vielen Fragen, der luxuriöse Ansatz, ein Studium nicht als Mittel zu einem Zweck zu verstehen. Ihr Altgriechisch-Lehrer hat sie auf die Philosophie gebracht, der muss so ein berufener, begeisterter Pädagoge gewesen sein. Die alten Griechen will sie bis heute nicht zur Seite legen, im Hauptstudium erhalten sie gebührenden Platz. Auch Kant. „Aber es ist problematisch, die alten Philosophen auf die Gegenwart zu beziehen“, sagt sie gleichzeitig. Schließlich hofft sie doch, dass die Menschheit seit Aristoteles auch Neues gedacht hat. Also liest sie die französischen Denker der Gegenwart. Und als nächstes kommt Wittgenstein dran, die Sprachphilosophie. Restlos überzeugt hat sie bisher keiner, aber sie will auch keine allgemeingültigen Antworten, kein fertiges Weltbild. Es wäre sowieso zu einfach.
Sie bringt die Pole, die Widersprüche zusammen, nicht immer mühelos. Sie lernt auch am Set. Das sieht sie ganz nüchtern: Schließlich vergeht die meiste Zeit mit Warten. „Nach ein paar Tagen, wenn ich in der Rolle sicherer bin, kann man schon mal für zwei Stunden aussteigen“, sagt sie. Natürlich kann sie am Set nicht so tief eintauchen in den Stoff wie zu Hause. Da fängt sie gleich nach dem Frühstück zu lernen an, Wohnzimmer wird Arbeitszimmer wird Lebensmittelpunkt. Sie liest. Sie hält sich am Text fest, durchdringt ihn, verliert sich darin nicht. Sie ist ja kein ruhiger Mensch, nicht zurückgezogen, sie will es wissen, also fragt sie nach. Vielleicht wirkt das manchmal vorlaut. Einen Regisseur hat sie im Casting gefragt, warum die Hauptfigur im Drehbuch das Absurde von Camus lebe. Sie biss sich auf die Zunge: Intellektuelle Angeberei ist unbekömmlich. Doch sie hatte ins Schwarze getroffen. Die Rolle hat sie bekommen.
Lavinia Wilson findet sich privilegiert und genießt es. Zum ersten Mal hat sie jetzt Theater gespielt, in Hamburg am Schauspielhaus. Zwei Monate lang war an Lernen nicht zu denken. Doch es gibt ja lange Phasen, in denen sie intensiv lernen kann, sie muss nicht täglich in ein Büro, sie hat keine Familie. Sie frönt dem Luxus des Lernens und lässt sich damit Zeit. Ganze Kurse nimmt sie sich vor, immer, wenn es geht. Belegt auch viel mehr, als sie schließlich abschließt. Ihre Zwischenprüfungen sind bisher hervorragend gelaufen. Dass die Materialien in den auslaufenden Magister-Studiengängen mitunter schon älter sind, weil alle Energien in die neuen Studienangebote fließen, stört sie zunehmend. Kompromissvorschlag: Könnten die Kursbetreuer nicht zumindest jeweils aktuelle Literaturlisten zusammenstellen? Sie meint dieses Studium nun mal ernst. Dass die Kurse es einem nicht immer leicht machen, ist deshalb schon eher in Ordnung: „Das muss auch so sein. Man muss sich das erarbeiten.“ Sie hat Disziplin, natürlich.
Dann wieder Kontrastprogramm: Wilson hat so manche RTL-Klamotte gedreht. „Das versendet sich“, sagt sie, und irgendwie muss sie ja die Miete zahlen. Aber: Keine Serien, die vor acht Uhr laufen. Und selbst im Unterhaltungsfernsehen verlässt ihre humanistische Prägung sie nicht: „Man kann überall was ausprobieren. An jedem Tag am Set kann man was lernen“, sagt sie selbstverständlich. Solche Rollen geben ihr außerdem Spielraum für die guten Filme, die, an denen ihr Herz hängt, für die es nicht so leicht Fördergelder gibt und nur kleine Kopienzahlen fürs Kino. Seit sie den Max-Ophüls-Preis gewonnen hat, ist es leichter geworden. Sie muss nichts mehr nur für die Miete machen. Gerade dreht sie wieder einen Tatort; das, erzählt sie, mache sie immer gern. Nur das Opfer spielt sie nicht mehr.
Stand: November 2006