William Stern zur Geschichtsforschung
Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 43
Zu den Ephemera der Psychologie gehören auch Albumblätter, Schriftstücke und Zettel, die nur für einen Dank, einen Hinweis oder einen Gruß entstanden sind. Hierunter sind auch Verse, Zitate, Widmungen und Wünsche von Psychologinnen und Psychologen zu finden. Ein solches Blatt hat der Hamburger Psychologe, Pädagoge und Philosoph William Stern (1871–1938) im Jahr 1920 beschrieben:
William Stern nennt vier Metaphern für Tätigkeiten der Geschichtsforschung, jeweils verbunden mit einer Handlungsrichtung: rückwärts, vorwärts, abwärts und aufwärts. Die vier anschaulichen Bilder der Geschichtsforschung hat Stern vermutlich selbst ersonnen.
Es ist nicht überliefert, aus welchem Anlass Stern diese Zeilen schrieb. Der 11. April war der Ostersonntag des Jahres 1920. Stern erwartete zu Ostern eine Einladung zur Reichsschulkonferenz. Für diesen Fall wollte er nach Berlin fahren (Lück & Löwisch, 1994, S. 127). Die große Konferenz fand aber erst im Juni in Berlin statt. Vielleicht war das Blatt ein Geschenk von Stern für einen Kollegen.
Das Blatt stammt aus dem Autografenhandel und wurde seit der Veröffentlichung in der „Illustrierten Geschichte der Psychologie“ (1993, S. V) gelegentlich reproduziert und zitiert.
Zu dem kleinen Konvolut gehört ein weiteres Blatt von William Stern, das er zu Weihnachten 1926 einer Person als „Dank für freundliche Hilfeleistungen“ zukommen ließ. Ein Portrait von Stern wurde vermutlich erst später zusammen mit dem Albumblatt auf einen bräunlichen Bogen geklebt.
Vielleicht hatten eine Studentin oder ein Student für Stern Aufgaben bei den großen empirischen Untersuchungen an Schülerinnen und Schülern übernommen, vielleicht ging es auch um Hilfe im Haushalt. Das Jahr 1926 war nämlich für William Stern beruflich und privat ungewöhnlich unruhig. Er hatte für den Sommer ein Freisemester bekommen und reiste viel, um Vorträge zu halten; Stern bekam Einladungen, u.a. nach Kopenhagen, und er arbeitete an mehreren Büchern und Aufsätzen, u.a. über „Jugendliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen“ (1926) und an seiner Selbstdarstellung (1927). Eva, die Tochter von William und Clara Stern, reiste in diesem Jahr nach Palästina, der Sohn Günther (Günther Anders) arbeitete in Paris, Tochter Hilde hatte eine unglückliche Ehe geführt, strebte die Scheidung an und lebte im Dezember 1926 bis Januar 1927 mit ihren Kindern bei Familie Stern in Hamburg. Sie fand dann eine kleine Wohnung in der Nähe. Der Plan der Familie war, dass sie als Privatsekretärin von William Stern tätig werden sollte. Seinem Freund Jonas Cohn schrieb William Stern zu der Trennung: „Ihr könnt euch denken, wie auch uns das mitgenommen hat“ (Lück & Löwisch, 1994, S. 157). Hinter vielleicht unscheinbaren Autogrammen, Widmungen und Albumblättern verbergen sich manchmal Personen mit ihren besonderen Erlebnissen und Lebensgeschichten.
Lück, H. E. & Löwisch, D.-J. (Hg.) (1994). Der Briefwechsel zwischen William Stern und Jonas Cohn. Dokumente einer Freundschaft. Frankfurt: Lang.
Stern W. (1926) Jugendliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen. Leipzig: Quelle & Meyer.
Stern, W. (1927). [Selbstdarstellung]. In: Schmidt, R. (Hrsg.): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 6. Leipzig: Felix Meiner, S. 129-184.
H.E.L.