Forschungsschwerpunkt: Rechtspsychologie (RePsy)

Die Rechtspsychologie ist eine der ältesten Disziplinen der Angewandten Psychologie (vgl. Lück & Rothe, 2017). Die Rechts­psychologie umfasst die Kriminalpsychologie und die Forensische Psychologie (Bliesener, Lösel, & Köhnken, 2014): Die Kriminal­psychologie bezieht sich auf die Beschreibung, Erklärung, Prognose, Prävention und Rehabilitation kriminellen Verhaltens. Die Fragestellungen der Forensischen Psychologie betreffen Gerichts­verhandlungen und -urteile. Dazu gehören zum einen die Entscheidungs- und Urteilsprozesse selbst (z.B. psychologische Urteilsfehler). Und zum anderen die sachverständige Begutachtung von strafrechtlichen Fragestellungen (z.B. der Glaubhaftigkeit von Zeug/innen oder des Rückfallrisikos von Straftäter/innen) und zivilrechtlichen Belangen (z.B. Sorge- und Umgangsrecht in Fällen von Trennung und Scheidung, Kindeswohl­gefährdung). Dadurch hat die Rechtspsychologie Berührungspunkte mit diversen Grundlagen­fächern der Psychologie, konkret: Allgemeine Psychologie, Diagnostik, Entwicklungspsychologie, Persönlichkeits­psychologie und Sozialpsychologie. Zum anderen bestehen aber auch Querbezüge zu weiteren Anwendungsfächern (z.B. Gesundheitspsychologie oder Klinische Psychologie). Der neue Schwerpunkt Rechtspsychologie an der Fakultät für Psychologie der FernUniversität in Hagen bündelt daher seit April 2019 die Zusammenarbeit von Kolleginnen und Kollegen der folgenden Lehrgebiete: Persönlichkeitspsychologie, Diagnostik & Beratung (Prof. Dr. Andreas Mokros; Koordination); Gesundheits­psychologie (Prof. Dr. Christel Salewski); Sozialpsychologie (Prof. Dr. Stefan Stürmer); und Psychologie II (Prof. Dr. Aileen Oeberst). Interessierte anderer Lehrgebiete sind herzlich willkommen. Darüber hinaus bemühen sich die Beteiligten um einen interdisziplinären Austausch, insbesondere mit Kolleginnen und Kollegen aus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät.

Der Schwerpunkt RePsy gliedert sich in drei Aktivitätsbereiche: 1) Forschung, 2) Graduiertenausbildung und 3) Wissenschafts-Praxis-Transfer.

1) Forschung

Die Forschung im Schwerpunkt RePsy orientiert sich am Ideal nutzeninspirierter Grundlagenforschung: Theoriebasiert und unter Beachtung der Kriterien von Open Science beschäftigten sich die Beteiligten mit Fragestellungen, die mittelfristig eine praktische Anwendung versprechen, so dass vorliegende Probleme zunehmend besser gelöst werden können. Konkret verfolgen die Beteiligten unter anderem die folgenden Forschungsfragen (s. hierzu auch die Liste einschlägiger Veröffentlichungen weiter unten):

  • Inwiefern hängen die Ausprägungen von Eigenschaften der s.g. Dunklen Tetrade (Psychopathie, Narzissmus, Machiavellismus und Charaktersadismus) im Sinne subklinischer Auffälligkeiten mit sozial problematischem oder delinquentem Verhalten zusammen? Bieten Konstrukte wie die Dunkle Tetrade einen Mehrwert, verglichen mit allgemeinen Modellen der Persönlichkeitsstruktur (z.B. Big Five/NEO oder HEXACO)?

  • familienrechtspsychologischer Gutachten erfordert die Diagnostik von Kindeswohlkriterien (z.B. Bindung oder elterliche Erziehungsfähigkeit), für die bislang entweder keine oder nur eingeschränkt einsetzbare Erhebungsverfahren existieren. Die Einschränkung ergibt sich aufgrund fehlender Altersangemessenheit für zu begutachtende Kinder, Standardisierung und Validierung. Wie können zur Erfassung von kindeswohlkriterienbezogenen Konstrukten reliable, valide und auf spezifische Altersgruppen zugeschnittene Beobachtungs-, Interview- und Fragebogenverfahren (weiter-)entwickelt werden?

  • Eine Reihe von Studien hat bereits gezeigt, dass man Menschen falsche Erinnerungen an negative Kindheitsereignisse suggerieren kann, was natürlich verheerende Konsequenzen nach sich ziehen kann (z.B. Verurteilung Unschuldiger). Lassen sich falsche Erinnerungen wieder rückgängig machen? Oder lassen sie sich zuverlässig identifizieren?

  • Wie können (nomothetische) Erkenntnisse von Stichprobendaten auf den Einzelfall übertragen werden? Welche Maße sind geeignet, um die Unsicherheit von einzelfallbezogenen Einschätzungen zu quantifizieren, insbesondere im Kontext der forensisch-psychologischen Risikobeurteilung?

  • Im Rahmen der Glaubhaftigkeits-begutachtung wird versucht, mittels s.g. Realkennzeichen erfundene von erlebten Aussagen zu unterscheiden. Dieses relativ standardisierte Vorgehen wird in einem weiteren Schritt einzelfallbezogen subjektiv beurteilt. Wie hoch stimmen unterschiedliche Beurteiler/innen darin überein? Ist das Ergebnis von irrelevanten Vorinformationen abhängig? Lassen sich die zugrunde gelegten theoretischen Annahmen in der Praxis tatsächlich wiederfinden?

  • Die empirische Fundierung der Rechtspsychologie basiert fast ausschließlich auf Untersuchungen an Personen aus dem westlichen Kulturkreis. Inwieweit sind diagnostische Verfahren, die in westlichen Kulturen entwickelt wurden, bei Personen aus anderen Kulturkreisen anwendbar? Welche kulturellen Kompetenzen müssen psychologische Gutachter/innen besitzen, um eine faire Begutachtung zu gewährleisten?

  • Können indirekte Maße als Ergänzung für etablierte Fremd- und Selbstberichtsverfahren dienen? Können genetische Korrelate für die Störungen identifiziert werden? Wie sollte eine Beschreibung der genannten Störungen auf dem Kontinuum von rein dimensionalen zu rein typologischen Konzepten erfolgen? Ist der Einbezug funktionaler Eigenschaften für das Verständnis von Psychopathie sinnvoll?

  • Nur fach- und sachgerecht erstellte psychologische Gutachten können bei familienrechtlichen Fragestellungen die gerichtlichen Entscheidungsprozesse zielführend unterstützen und den diagnostizierten Personen tatsächlich gerecht werden. Um die Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten fundiert einschätzen zu können, sind theoretisch begründete und evidenzbasierte Kriterien erforderlich. Wie können die bisher formulierten Qualitätskriterien weiterentwickelt und empirisch geprüft werden? Wie können diese Qualitätskriterien an andere Berufsgruppen, die an familienrechtspsychologischen Entscheiden beteiligt sind (z. B. Richter/innen, Rechtsanwält/innen, Jugendamtsmitarbeiter/innen) kommuniziert und für diese nutzbar anwendbar gemacht werden?

  • Manche Störungen der Sexualpräferenz sind forensisch bedeutsam (konkret: Pädophilie und sexueller Sadismus). Inwiefern weisen Betroffene Auffälligkeiten in der Informationsverarbeitung auf? Sind solche Auffälligkeit in der Informationsverarbeitung (konkret: in der Auslenkung der selektiven Aufmerksamkeit) gezielt veränderbar?

  • Unterliegen juristische Urteile (z.B. bzgl. der Fahrlässigkeit im Straf- & Zivilrecht, der Originalität im Patentrecht) systematischen Verzerrungen, wie etwa dem Rückschaufehler oder dem Bestätigungsfehler? Welche Gegenmaßnahmen sind wirksam?

2) Graduiertenausbildung

Die Beteiligten sind bestrebt, Nachwuchswissenschaftler/innen (Doktorand/innen und PostDocs) ein intellektuell möglichst anregendes Umfeld zu bieten, das Unterstützung für die Konzeption, Durchführung und Publikation eigener Studien bietet und durch Vernetzung die weitere Karriere befördert. Das primäre Vehikel in diesem Kontext ist ein monatliches Graduiertenkolloquium (KollRePsy), das sich inhaltlich an dem Ziel orientiert: „Publish, don’t perish (nor panic)!“ Didaktisch handelt es sich dabei um ein Hybrid-Seminar, an dem neben den in Hagen Tätigen auch Auswärtige teilnehmen können.Die Sitzungen finden jeweils am letzten Dienstag im Monat von 13:00 bis 14:30 Uhr statt. Die Teilnehmer/innen müssen sich, sofern sie selbst Inhalte vorstellen wollen, eine Woche vor der Veranstaltung am Lehrgebiet Persönlichkeits-, Rechtspsychologie und Diagnostik registrieren. Inhaltlich werden Forschungskonzepte, methodische Fragestellungen und Themen im Zusammenhang mit der Publikation eigener Arbeiten besprochen. Darüber hinaus können auch anderweitige Veröffentlichungen im Sinne eines Journal Club besprochen werden. Schließlich besteht die Möglichkeit, Methoden zu vermitteln (etwa die Programmierung bestimmter Auswertungen in R). Die Atmosphäre im KollRePsy orientiert sich am Grundsatz T.H.I.N.K., also: True, Helpful, Inspiring, Necessary und Kind. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, eigene Inhalte vorzustellen; das Format für Präsentationen ist informell – der Inhalt zählt.

Einmal im Jahr findet ein KollRePsy-Tag in Hagen statt. Anlässlich dieser Veranstaltung haben Teilnehmer/innen die Gelegenheit, ihre aktuellen Arbeiten vorzustellen (durch Vorträge oder Poster). Außerdem werden interne oder externe Referent/innen eingeladen, um zu aktuellen Themen vorzutragen. Diese Schwerpunktvorträge können den Charakter eines mehrstündigen Workshops haben und sollen vornehmlich der Vermittlung von Kompetenzen dienen. Neben den regelmäßig Teilnehmenden werden auch Angehörige anderer Fakultäten und auswärtige Interessierte eingeladen.

Schließlich besteht ein kontinuierlicher Austausch mit dem/der Nachwuchsvertreter/in der Fachgruppe Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, um auf aktuelle Veranstaltungen und Entwicklungen hinzuweisen.

3) Theorie-Praxis-Transfer

Aufgrund der Orientierung an nutzeninspirierter Grundlagenforschung bemühen sich die Beteiligten um die Integration ihrer Erkenntnisse in die Anwendungspraxis. Zugleich sind die Beteiligten aufmerksam, welche Bedarfe in der Praxis aktuell oder perspektivisch bestehen. Darüber hinaus werden entsprechende fakultätsübergreifende Initiativen entwickelt (z. B. die familienrechtspsychologisch-diagnostische Arbeitsgemeinschaft famdiAG in Kooperation mit dem M. Sc. Rechtspsychologie der Universität Bonn, https://master-rechtspsychologie.de/ueber-die-famdi-ag/).

Zur jährlichen Zusammenkunft des KollRePsy-Tages (s. oben) werden auch externe Interessierte sowie Kooperationspartner/innen aus der Praxis eingeladen. Darüber hinaus werden externe Interessierte und Kooperationspartner/innen auch angeschrieben, wenn im Rahmen des RePsy-Schwerpunkts Workshops angeboten oder Vorträge gehalten werden.


Beteiligte Wissenschaftler/innen

  • M.Sc. Sven Fath
  • M.Sc. Kirsten Gropengießer
  • M.Sc. Miriam Hofmann
  • Dr. Zohra Karimi
  • Dipl.-Psych. Maria Kluge
  • M.Sc. Inga Korte
  • M.Sc. Jonas Krüppel
  • Dipl.-Psych. Nicole Matheis
  • M.Sc. Anne-Kathrin Meyer
  • M.Sc. Jörn Meyer
  • Prof. Dr. Andreas Mokros (Koordination)
  • Prof. Dr. Aileen Oeberst
  • M.Sc. Lena-Mareike Rode
  • Prof. Dr. Christel Salewski
  • Dr. Sabrina Schneider
  • Prof. Dr. Stefan Stürmer
  • M.Sc. Merle Wachendörfer
  • M.Sc. Julien Wessels
  • Dr. Dahlnym Yoon
  • Dipl.-Psych. Nina Zembold

Zitierte Literatur

  • Bliesener, B., Lösel, F., & Köhnken, G. (2014). Lehrbuch Rechtspsychologie. Bern: Hans Huber.
  • Lück, H. E., & Rothe, M. (2017). Hugo Münsterberg: Psychologie im Dienst der Wissenschaft. Report Psychologie, 42, 58-65.

Einschlägige Publikationen

(Mitglieder des Schwerpunkts RePsy durch Unterstreichung hervorgehoben)

  • Benbow, A. F., & Stürmer, S. (2017). Stereotype-based judgments of child welfare issues in cases of parent criminality. Journal of Applied Social Psychology, 47, 267-281. doi:10.1111/jasp.12436

  • Eher, R., Rettenberger, M., Etzler, S., Eberhaut, S. & Mokros, A. (2019). Eine gemeinsame Sprache für die Risikokommunikation bei Sexualstraftätern: Trenn- und Normwerte für das neue Fünf-Kategorienmodell des Static-99. Recht & Psychiatrie, 37, 91-99.

  • Mokros, A., & Banse, R. (2019). The “Dunkelfeld“ project for self-identified pedophiles: A reappraisal of its effectiveness. Journal of Sexual Medicine, 16, 609-613. doi:10.1016/j.jsxm.2019.02.009
  • Nitschke, J. & Mokros, A. (in Druck). Evaluation der Kriterienliste der Bayerischen Bewährungshilfe: Die Aktuarische Skala für RisikoprobandInnen im Ambulanzbereich (ARPA). Recht & Psychiatrie.
  • Nitschke, J., Sünkel, Z. & Mokros, A. (in Druck). Die forensische Präventionsambulanz Ansbach: Evaluation des Modellprojekts zur Behandlung von psychiatrischen Risikopatienten. Nervenarzt.
  • Oeberst, A. (in press). Der Rückschaufehler im juristischen Kontext: Relevante psychologische Forschung, begründete Spekulationen und Schlussfolgerungen für die Praxis. Rechtswissenschaft.
  • Poeppl, T., Donges, M., Mokros, A., Rupprecht, R., Fox, P., Laird, A., Bzdok, D., Langguth, B., & Eickhoff, S. (2019). A view behind the mask of sanity: Meta-analysis of aberrant brain activity in psychopaths. Molecular Psychiatry, 24, 463-470. doi:10.1038/s41380-018-0122-5
  • Salewski, C., & Stürmer, S. (2015). Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten. Eine aktuelle empirische Studie. Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 1, 4-9.
  • Salewski, C., Stürmer, S., Meyer, J., & Meyer, A.-K. (2016). Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten: Eine empirische Analyse mit Praxiskommentaren (Beiträge zur Angewandten Psychologie, Bd. 1). Frankfurt: Peter Lang Verlag.
  • Stefańska, E. B., Nitschke, J., Carter, A. J., & Mokros, A. (2019). Sadism among sexual homicide offenders: Validation of the Sexual Sadism Scale. Psychological Assessment, 31, 132-137. doi:10.1037/pas0000653
  • Stürmer, S., Salewski, C., Meyer, A.-K., & Meyer, J. (2015). Methodische Qualität und Bindungsdiagnostik im Kontext familienrechtspsychologischer Gutachten. Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, 18, 26-43. doi: 10.13109/kind.2015.18.1.26
  • Stürmer, S., & Salewski, C. (2014). Studie: Viele Fehler in Gutachten. Deutsche Richterzeitung, 09/2014, 282-283.
Tobias Burkhard | 08.04.2024