Studentenprotest 1968: Thesen zur Psychologie

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 26

Bei den über 50 Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ist es nur einmal vorgekommen, dass Studierende während einer Veranstaltung das Podium stürmten und die dortige Diskussion unterbrachen. Dies war vor über 50 Jahren zur Zeit der Studentenbewegung, 1968 beim 26. Kongress in Tübingen. Schon bei der Eröffnung des Kongresses machten sich Studenten durch Poster bemerkbar. Eine Gruppe von Studentinnen und Studenten ging dann beim Symposion II „Psychologie und politisches Verhalten“ (Leitung: Carl Friedrich Graumann) auf das Podium und unterbrach mit einer „Flüstertüte“ lautstark die Diskussion der vier Podiumsteilnehmer. Die Studierenden verlasen dazu ihre eigenen Thesen. Nach anfänglicher Ratlosigkeit und turbulenter Diskussion konnten die Studierenden dazu bewegt werden, ihre 27 Thesen zu Papier zu bringen. Das Thesenpapier wurde dann zur Nachmittagssitzung vervielfältigt (s. Abb.) und dort diskutiert. Das Symposion wurde später im Kongressbericht nach Tonband­aufzeichnungen abgedruckt (Irle,1969), allerdings fast ohne den chaotischen Teil der Veranstaltung.
Die Thesen der Studierenden bezogen sich auf die Ablehnung sowohl der herkömmlichen akademischen Psychologie als auch der „Rattenpsychologie“, womit Lerntheorien und Behaviorismus gemeint waren. Kritisiert wurde u.a. die weitgehende Ablehnung der Psychoanalyse in der Universität:

„19. Das neueste der Wissenschaftstheorie ist die Herstellung eines Kastens, in der (sic!) die Psychoanalyse neben Rutengängerei und Astrologie versteckt wird. Dort klappert sie seit dem.“

Im Vorwort zu dem Kongressbericht schrieb der Herausgeber Martin Irle, er hoffe „nur sehr zaghaft –, daß die Protestanten in zehn bis zwanzig Jahren noch einmal nachlesen, was sie verurteilten und was sie forderten“ (1969, S. IV). In der Tat waren die Forderungen bemerkenswert:

„5. (..) Die Abschaffung von Herrschaft muß sofort Thema der Psychologie sein. Zur Herstellung von optimalen Bedingungen dazu, gehört als erstes die Verlängerung des Psychologie-Studiums.
6. Die Verlängerung des Studiums kommt der Beschäftigung mit Theorie zugute [...]

15. Lerntheorie ignoriert ex definitione den gesellschaftlichen Möglichkeitsbereich, etwas zu lernen. Sie triumphiert, wenn Einige sinnlose Silben wiederholen können.“

Nach 50 Jahren liest sich heute auch Irles Vorwort anders als damals. Er schrieb: „Wir hatten uns zu stellen am Gesellschaftsabend, an dem diese Studenten eine Etage tiefer als wir ihren Gesellschaftsabend zelebrierten. Die ‚Kinder‘ feierten ihr eigenes Fest. Nur wenige von uns gingen nach unten; die Mehrzahl verharrte oben im Establishment. Dennoch: Unten zelebrierte auf ihre Weise die Psychologen-Generation von morgen.“

Bild: Fernuni-Hagen
Abbildung 1. Die Thesen 21-27 der protestierenden Studierenden.
Bild: Fernuni-Hagen
Abbildung 2. Diskutierende Kongressteilnehmer/-innen in der Pause

Irle, M. (Hrsg.) (1969). Bericht über den 26. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Tübingen 1968. Göttingen: Hogrefe.

H.E.L.

Gerhard Tübben | 12.08.2021