Ein Streit um musikalische Inspiration

Der Komponist Hans Pfitzner und der Psychologe Julius Bahle

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 22

Am 18. September 1935 erschien in der „Frankfurter Zeitung“ ein Aufsatz mit dem Titel „Wie wird komponiert?“, in dem ein gerade habilitierter Psychologe, Julius Bahle, seine Forschungsergebnisse zum musikalischen Schaffensprozess anschaulich darstellte. Durch diesen Aufsatz fühlte sich der bekannte Komponist Hans Pfitzner (1869-1949) angegriffen. Er reagierte am 9. Januar 1936 mit einer Entgegnung im „Völkischen Beobachter“, dem Parteiorgan der NSDAP, in der er Bahle scharf angriff und darauf bestand, dass künstlerische Inspiration nicht so sehr ein Ergebnis zielgerichteter Anstrengungen, sondern eine göttliche Gabe sei, die letztlich nicht weiter erklärt werden könne. So entstand in der Nazizeit ein heftiger Streit zwischen Pfitzner und Julius Bahle (1903-1986). Bahle hatte das Schaffen von Komponisten einfallsreich mit empirischen Methoden untersucht und daher gute Gründe, am Geniekult zu zweifeln (vgl. Schaufenster Nr. 6). Da Pfitzner der Naziideologie nahestand, Bahle dagegen als Student SPD-Mitglied gewesen war, bekam die heftige Kontroverse sofort eine politische Färbung. In seinem Buch Über musikalische Inspiration (1940) kanzelte Pfitzner den Psychologen wie einen dummen Jungen ab. Nicht nur das; Pfitzner und seine Mitstreiter hielten die Psychologie für völlig ungeeignet, Kreativität zu erforschen. Über Inspiration könne nur der inspirierte Künstler sprechen. So Pfitzner. Heute gilt Pfitzners Auffassung als überholt.

Die Pfitzner-Affäre fand ihren Abschluss durch ein schmales Buch von Bahle: Der geniale Mensch und Hans Pfitzner. Eine psychologische Kulturkritik, das 1949 erschien. Ob Pfitzner dieses Buch noch zur Kenntnis genommen hat ist fraglich. Er verstarb im Mai des gleichen Jahres. Das Buch von Bahle erschien 1974 erneut mit etwas verändertem Titel.

Das Psychologiegeschichtliche Forschungsarchiv bewahrt den wissenschaftlichen Nachlass von Julius Bahle.

H.E.L.

Bahle, J. (1935). Wie wird komponiert? Frankfurter Zeitung, 18. September 1935.

Bahle, J. (1949). Hans Pfitzner und der geniale Mensch. Eine psychologische Kulturkritik. Konstanz: Weller. – Nachdruck 1974 unter dem Titel Der geniale Mensch und Hans Pfitzner. Eine psychologische Kulturkritik. Hemmenhofen: Kulturpsychologischer Verlag.

Pfitzner, H. (1936). Was ist musikalische Inspiration? Völkischer Beobachter, 10. Januar 1936.

Pfitzner, H. (1940). Über musikalische Inspiration. Berlin-Grunewald: Adolph Fürstner.

pfitznerFoto: Fernuni Hagen
bahleFoto: Fernuni Hagen
Gerhard Tübben | 08.04.2024