Ein langer Schatten der Nazizeit: Der Internationale Kongress für Psychologie 1960 in Bonn
Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 18
Ein harmlos erscheinender Schmuckbrief mit einem Sonderstempel vom 3.8.1960 zum XVI. Internationalen Kongress für Psychologie in Bonn lässt nicht erkennen, dass es bei der Vorbereitung dieses ersten großen Kongresses der Nachkriegszeit in Deutschland erhebliche Konflikte gab. Diese hatten mit Verstrickungen in der NS-Zeit zu tun.
Als entschieden war, dass der XVI. Internationale Kongress in Deutschland stattfinden solle, hatte die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) die Organisation dieses Kongresses übernommen; somit war der Vorstand mit dem Vorsitzenden Friedrich Sander gefragt. Sander, 1889 geboren, hatte u. a. in Jena gelehrt und war im Dezember 1945 aus dem Hochschuldienst entlassen worden. Nach einer kurzen Gastprofessur wurde Sander zum 1. 1. 1955 nach Bonn berufen. Schon vorher, im Oktober 1953 war Sander in den Vorstand der DGPs berufen worden, in dem er schon früher mitgewirkt hatte. 1957 war Sander Gastgeber des 21. Kongresses der DGPs in Bonn, er hatte also Erfahrungen mit der Organisation eines Kongresses. Bonn wurde nun Kongressort des XVI. Internationalen Kongress, und dieser hätte den Höhepunkt im wissenschaftlichen Lebenslauf des damals bekannten Ganzheitspsychologen bilden können.
Anfang Februar 1960 kursierte aber eine Zusammenstellung von Zitaten aus tendenziösen Arbeiten von Sander aus der Nazizeit. Eine solche Zusammenstellung schickten einige Assistenten verschiedener Universitäten im März mit einem Rundschreiben an alle Psychologieprofessoren der Bundesrepublik. Schon kurz zuvor hatte es Proteste von Wilhelm Peters gegeben, der aufgrund der rassistischen Gesetze des Nationalsozialismus 1933 seine Professur in Jena verloren hatte, während Friedrich Sander dort anschließend von 1933 bis 1945 als Ordinarius lehren konnte. Auch waren aus dem Ausland Abmeldungen vom Kongress gekommen.
Unvorbereitet traf nun den soeben nach Bonn berufenen Hans Thomae die schwierige Aufgabe, das Scheitern des Kongresses zu verhindern. Thomae berief Krisensitzungen der Psychologieprofessoren ein. Einige wollten offenbar den Kongress ganz absagen, andere traten aus dem Organisationskomitee aus, wieder andere vertraten die damals weit verbreitete Meinung, man solle Sander das Vertrauen schenken, denn Verfehlungen der NS-Zeit seien doch verjährt. Schließlich trat Sander vom Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zurück und nach einigem Hin und Her erklärte sich Prof. Wolfgang Metzger (Münster) zum Vorsitz bereit.
Als der Kongress am 1. August mit 1.700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, von denen viele aus dem Ausland gekommen waren, in der neuen Beethovenhalle mit der Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach eröffnet wurde, hatte Sander keine offizielle Rolle mehr.
Der Kongress wurde zum Erfolg und markiert das Ende der Nachkriegszeit der westdeutschen Psychologie, ablesbar auch an dem unmittelbar folgenden Wechsel der Vorstandsmitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
Fitzek, H. & Wittmann, S. (2003). Die Psychologische Anstalt im Nationalsozialismus unter Friedrich Sander. In G. Eckardt (Hrsg.), Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert, (S. 336-401). Frankfurt: Lang.
Lück, H.E. (2004). Die Wiederbegründung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Psychologische Rundschau, 55, Supplementum 1, 33-41.
Wittmann, S. (2002). „Die paradoxe Doppelnatur des Intellektuellen“ – Der Fall Friedrich Sander. Psychologie und Geschichte, 10 (3/4), 309-322.
H.E.L.