Ein Brief von Wilhelm Wundt an seinen Kollegen Johannes Volkelt

„Wenige Tage vor seinem Tode geschrieben“

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 29

Der Psychologe, Philosoph und Physiologe Wilhelm Wundt wurde 1832 in Neckarau (heute ein Ortsteil von Mannheim) geboren, er starb am 31. August 1920 in Großbothen bei Leipzig, wo er in der Grimmaer Straße ein größeres Ferienhaus besaß und im Alter gern lebte und arbeitete.

Das Hagener Archiv besitzt mehrere Briefe von Wundt, darunter diesen Brief vom 18. August 1920 an seinen Leipziger Kollegen Johannes Volkelt (1848-1930). Wundt bedankt sich für ein Buch, offenbar ein Geburtstagsgeschenk, denn zwei Tage zuvor war er 88 Jahre alt geworden. Vermuten kann man, dass Wundt das neueste Buch von Volkelt geschenkt bekam: „Das ästhetische Bewusstsein“ (1920), in das sich Wundt „bereits mit großem Interesse vertieft“ hatte. Wundt zeigt sich erfreut, dass die Leipziger Kollegen (Ernst) Bergmann und (Friedrich Reinhard) Lipsius „von ihren Sorgen befreit“ seien. Damit dürfte die Ernennung zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor gemeint sein. Lipsius (1873-1934), den Wundt besonders lobt, war ausgebildeter Theologe und hatte sich auch mit der Philosophie Wundts auseinandergesetzt. Mit Befürwortung von Wundt und Johannes Volkelt hatte sich Lipsius habilitiert.

Der Adressat des Briefes, Johannes Volkelt, war Philosoph, sein Sohn Hans Volkelt (1886-1964) lehrte als Philosoph, Pädagoge und Psychologe später ebenfalls in Leipzig. Wilhelm Wundts Formulierungen klingen heute etwas umständlich und altmodisch. Seine Sympathie für Johannes Volkelt, den er zwar siezt, aber als „Freund“ anredet, ist aus dem Brief aber leicht zu ersehen.

2020 ist nicht nur wegen Wundts Tod vor 100 Jahren ein „Wundt-Jahr“, 1920 erschienen auch Wundts Lebenserinnerungen „Erlebtes und Erkanntes“. In diesem Buch berichtet der betagte Wundt über sein Elternhaus, seine akademischen Lehrer, seine politische Tätigkeit und seine Ziele als Wissenschaftler.

Das Ferienhaus in Großbothen, 1904 erbaut und später lange vom Verfall bedroht, befindet sich inzwischen in Privatbesitz und wird derzeit mit Mitteln aus dem Denkmalschutz-Sonderprogramm der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung renoviert (Förderverein Wilhelm-Wundt-Haus Großbothen e.V.).

Man könnte annehmen, dass die Psychologie Wilhelm Wundts nach über 100 Jahren überholt und vergessen sei. Dies ist nicht der Fall. Seit ein paar Jahren gibt es sogar in der Psychologie neue Diskussionen um Wundts Werk, insbesondere um seine theoretische Orientierung (Benetka, 2002, Jüttemann, 2006, Fahrenberg, 2018, Eckardt, 2020). Diese Diskussion hat damit zu tun, dass sich die Psychologie im 20. Jahrhundert vor allem als experimentelle Psychologie entwickelt hat. So wurde vor allem Wundts experimentelle Psychologie gewürdigt und seine „Völkerpsychologie“ als nicht hilfreich auf dem Weg zu einer experimentellen Sozialpsychologie angesehen. Welche Bedeutung hatte die Völkerpsychologie? Ist sie vielleicht für Wundt aus guten Gründen der wichtigere Bereich der Psychologie gewesen, dem er sich in den letzten 20 Jahren seines Lebens besonders widmete? (Jüttemann, 2006). Zur Fehleinschätzung von Wundts Psychologieverständnis trugen auch sein riesiges Œvre, seine Streitbarkeit und Missverständnisse durch amerikanische Wundt-Schüler bei (vgl. Danziger, 1979, Benetka, 2002, S. 61ff.).


Benetka, G. (2002). Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert. Wien: WUV Universitätsverlag.

Danziger, K, (1979). The positivist repudiation of Wilhelm Wundt. Journal of the History of Behavioral Sciences, 15, 205-230.

Eckardt, G. (2019). Ausgewählte Texte zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft. In memoriam Wilhelm Wundt. Wiesbaden: Springer.

Fahrenberg, J. (2018). Wilhelm Wundt (1832-1920). Gesamtwerk: Einführung, Zitate, Kommentare, Rezeption, Rekonstruktionsversuche. Lengerich: Pabst.

Jüttemann, G. (Hrsg.). (2006). Wilhelm Wundts anderes Erbe. Ein Missverständnis löst sich auf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Volkelt, J, (1920). Das ästhetische Bewusstsein: Prinzipienfragen der Ästhetik. München: Beck.

Wundt, W. (1920). Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart: Alfred Kröner. Digital: http://psychologie.biphaps.uni-leipzig.de/wundt/opera/wundt/WuErlebt/Inhalt.html

H.E.L.

Foto: Fernuni-Hagen
Anfang des Briefes von Wilhelm Wundt an Johannes Volkelt (PGFA, Bestand H.E.L.)

Grossbothen, 18. August 1920.

Lieber Freund und Kollege!

Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihre und Ihrer verehrten Frau Gemahlin freundliche Glückwünsche! Nicht minder für das ebenso überraschende wie Geschenk, das Sie mir mit ihrer neuen Schrift gemacht haben und in dessen Lektüre ich mich bereits mit großem Interesse vertieft habe. Ihre Nachrichten von der Fakultät haben mich sehr erfreut, umso mehr da es nach meiner Überzeugung die beiden tüchtigsten unserer Dozenten sind, Lipsius und Bergmann, die von ihren Sorgen befreit worden sind. Namentlich Lipsius schätze ich als vielseitigsten derselben. Da Sie selbst von einer eigenen Ferienreise nichts schreiben, so vermute ich fast, dass Sie diesmal in Leipzig bleiben wollen, und allerdings ist ja das Wetter seit einigen Tagen ungünstig geworden, aber das Ende des August und der Anfang des September pflegt in der Regel den Sommer den Sommer wieder zu bringen. So erlebten wir im vorigen Jahr in Grimma einige wundervolle Septemberwochen und hoffen diese auch hier noch zu erleben. Jetzt haben wir seit letztem Donnerstag meinen Sohn mit Frau und Kindern hier, und diese gedenken uns noch zu überdauern. Wir gedenken gegen Mitte September wieder nach Leipzig zurückzukehren. Bis dahin wünschen wir Ihnen noch eine schöne und ausgiebige Erholungsreise. Mit den herzlichsten Grüssen an Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin, denen sich auch meine Tochter sich anschliesst, verbleibe ich

Ihr
treu ergebener

W. Wundt.

Gerhard Tübben | 12.08.2021