1914: G. Stanley Hall sagt einen Vortrag in Leipzig zu

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 57

Granville Stanley Hall (1844-1924) war ein bedeutender amerikanischer Psychologe. Er studierte in den USA und Deutschland Theologie, entdeckte dann sein Interesse für die Psychologie. Zunächst lehrte er als Dozent an der Harvard University, dann reiste er wieder nach Deutschland und studierte zwei Jahre lang Physiologie in Berlin sowie an dem damals neuen Laboratorium von WilhelmWundt in Leipzig. Nach seiner Rückkehr in die USA hielt er Vorlesungen an der Harvard University, bekam 1881 eine Lecturer-Stelle an der Johns Hopkins University und gründete 1883 dort das erste Psychologische Laboratorium der USA. 1887 begründete er das American Journal of Psychology, die erste Psychologie-Zeitschrift in englischer Sprache. 1888 wurde Hall Präsident der neu gegründeten Clark University. Unter seiner Führung wurde diese Hochschule ein Zentrum der Psychologie in den USA. 1892 war Hall die treibende Kraft bei der Gründung der American Psychological Association. 1909, anlässlich des 20jährigen Bestehens der Hochschule, lud er mehrere Psychologen und Psychoanalytiker aus dem deutschen Sprachbereich an die Clark University ein. William Stern, Sigmund Freud und Carl Gustav Jung wurden dort mit Ehrenpromotionen ausgezeichnet. Durch die Vorträge von Freud und dessen Schüler wurde die Psychoanalyse in der Neuen Welt bekannt.

Das Hagener Archiv bewahrt einen Brief vom 2. Juli 1914, der Halls Beziehungen zu Deutschland deutlich macht: Hall schreibt an Paul Schlager, Generalsekretär des IV. Internationalen Kongresses für Volkserziehung und Volksbildung, in Leipzig. Hall sagt einen Vortrag zu; er werde in Leipzig über „Recreation and Relaxation“ referieren. Professor Brahn habe ihn gebeten, den Vortrag in deutscher Sprache zu halten. Dies habe er zugesagt. Er werde den Text englisch schreiben, dann übersetzen und auf Deutsch vortragen. Er akzeptiere den Samstagvormittag, 26. September 1914, für einen 45minütigen Vortrag und er bitte noch um Geduld, er wolle noch weitere Angaben zu seinem Vortrag machen.

Den Kongress hatte die Leipziger Lehrerschaft für den 25.-29. September 1914 organisiert. Halls Vortrag wurde in mehreren Zeitschriften als kommender Höhepunkt des Kongresses angekündigt, galt er doch als Fachmann für psychologische Fragen der Adoleszenz. Diesen Begriff hatte Hall geprägt. So kann man nach den Vorankündigungen und dem Briefinhalt vermuten, dass Hall den Vortrag wie geplant gehalten hat. So ist dies später gelegentlich auch angenommen worden. Der Vortrag fand jedoch nicht statt. Ende Juli, also nur wenige Tage nach dem Datum des Briefes, begann in Europa der Erste Weltkrieg und der Kongress musste abgesagt werden.

Foto: Fernuniversität in Hagen

Zu den erwähnten Personen ein paar Anmerkungen:

Paul Schlager, der von Hall als „Dear and Honored Professor“ angesprochen wurde, war Gymnasiallehrer, führend in der Lehrerbildung und bekannt als Goetheforscher.

Hall erwähnt im Brief nicht seinen Leipziger Lehrer Wilhelm Wundt. Gerade im Frühjahr 1914 erschien aber in Leipzig die deutsche Ausgabe der Founders of Modern Psychology (1912, deutsch 1914), separat zusätzlich das Kapitel über Wundt als eigenes Buch mit 178 Seiten (Hall, 1914). Hall über Wundt: „Sein Stil ist zumeist glanzlos wie Blei, aber ebenso solide.“ (S. 168). „Wenn Wundt einmal eine Autobiographie schreiben sollte, so fällt sie sicher ebenso lang und uninteressant aus wie diejenige Spencers“ (S. 168). Besonders „seine Psychologie wird zweifellos ebenso bald überholt werden, wie seine Physiologie schon seit langem überholt worden ist.“ (S. 169-170). Der Text von Hall über Wundt setzt sich besonders kritisch mit Wundts umfangreichen Publikationen auseinander. Hall war bei Wundt Versuchsperson gewesen, hatte Vorlesungen gehört und ihn 1900 und 1910 ohne Erfolg in die USA eingeladen. Inzwischen hatte Hall auch seine eigene Psychologie entwickelt.

Max Brahn war Wundt-Schüler, langjähriger Lehrer an der Universität; er hatte in Heidelberg promoviert und sich in Leipzig habilitiert. Brahn wurde Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie. Dies war das gut ausgestattete Institut des Leipziger Lehrervereins. Die deutsche Übersetzung des Hall-Buches über Wundt hatte Brahn mit einem kritischen Vorwort versehen; er war schließlich über Wundt und dessen Arbeiten sehr gut informiert. Nach dem Erscheinen kritisierte der inzwischen 81jährige Wundt das Buch von Hall in deutlichen Worten. In der Nazizeit emigrierte Brahn mit seiner Frau in die Niederlande. Beide wurde von dort verschleppt und Ende Oktober 1944 in Auschwitz ermordet (Gundlach, 1995).

Gundlach, H. (1995). Max Brahn (1873-1944). In memoriam. Psychologie und Geschichte, 6(3/4), 223-232.

Hall, G. S. (1912). Founders of modern psychology. New York: Appleton.

Hall, S. (1914). Wilhelm Wundt. Der Begründer der modernen Psychologie. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Raymund Schmidt. Durch Vorwort eingeführt von Dr. Max Brahn. Leipzig: Meiner.

H.E.L.

Patrick Rostane | 08.04.2024