Soziale Hierarchien, gesellschaftliches Ansehen und kulturelles Kapital werden nicht zuletzt über Arbeit bzw. berufliche Tätigkeiten verhandelt. Sie werden symbolisch hervorgehoben durch Codes wie die Farbe des Hemdkragens oder semantische Chiffren wie ‚Drecksarbeit‘. Als sogenannte Drecksarbeit gelten allgemein Tätigkeiten, von denen angenommen wird, dass ihre Ausübung mit Widerwillen geschieht, dass sie sozial bzw. moralisch fragwürdig sind, oder dass sie mit widrigen Arbeitsumständen verbunden sind. Sie auszuführen, kann bedeuten, Arbeit unter schwierigen und prekären Bedingungen zu leisten, in physischen Kontakt mit abjekter Materie zu treten und für diese Tätigkeit stigmatisiert oder gar kriminalisiert zu werden. Die sogenannte Drecksarbeit ist ein Zuschreibungsphänomen, das Fragen nach Materialitäten und Semantiken, nach kulturellen Praktiken und Ökonomien aufwirft. Sie eröffnet einen gesellschaftlichen Diskurs, der auch in Literatur, Bildender Kunst und Medien gestaltet, geprägt und verhandelt wird.
Dritte Jahrestagung der German Labour History Association.
Veranstaltet von der German Labour History Association in Kooperation mit dem Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, der FernUniversität in Hagen, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Hans-Böckler-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Fritz Hüser-Gesellschaft und dem Institut für soziale Bewegungen Bochum
Veranstaltungsort: Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund
Organisation: Dr. Iuditha Balint (Dortmund), Dr. Mareen Heying (Bochum), Dr. Vanessa Höving (Hagen), Bernd Hüttner (Berlin)
Aufzüge organisieren unser Leben und Arbeiten in der Vertikalen, einem der zentralen Vektoren in der medientechnischen Moderne. Eine entsprechend exponierte und funktionalisierte Rolle kommt der architektonischen Transportapparatur daher auch im Film zu: Der Aufzug avanciert zur Miniaturbühne zwischenmenschlicher Konfigurationen in diversen Spannungsfeldern wie Intimität und Anonymität, Begegnung und Isolation, Bewegung und Stillstand, Fluktuation und Hermetik, Sichtbarkeit und Verborgenheit, Ordnung und Störung, Aufstieg und Fall. Als verdichteter Raum spezifischer Kontingenz- und Unsicherheitserfahrungen ist der Aufzug allerdings nicht nur an filmische Genres gebunden, die moderne Urbanität oder utopische bzw. dystopische Techno-Visionen zeigen (angefangen beim Slapstick, über den Agentenfilm bis hin zum Office-Genre und die gesamte Bandbreite der Science-Fiction). Der filmisch in Szene gesetzte Aufzug organisiert auch in anderen Genres die Filmhandlung und ermöglicht Hybridisierungen, indem er durch den Raum der Kabine etwa Momente des Kammerspiels sowohl in die romantische Komödie als auch den Action-Film integriert. Darüber hinaus kommt dem Aufzug im Psychothriller wie im Horrorfilm immer wieder auch eine entscheidende Funktion bei der Inszenierung des Unbewussten zu. Gegenstand der Tagung sind ‚Aufzugsszenen‘ aus der gesamten Geschichte des Films, von ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die filmische Gegenwart des Kinos, TVs und des Streamings.
Zeiten:
Donnerstag, 30. November 2023: 14:00 bis 17:45 Uhr
Freitag, 1. Dezember 2023: 10:00 bis 16:15 Uhr (Abendveranstaltung 17:00 bis 19:00 Uhr/Kino Babylon)
Samstag, 2. Dezember 2023: 10:00 bis 13:30 Uhr
Veranstaltungsorte:
FernUniversität in Hagen: Gebäude 8 (AVZ), Raum B 118 (1. OG), Universitätsstr. 21, 58097 Hagen
Kino Babylon im Kulturzentrum „Die Pelmke“: Pelmkestr. 14, 58089 Hagen (Abendveranstaltung am 1.12.2023, 17-19 Uhr, der Eintritt ist frei)
Forschungsfeld: Aufzüge im Film. — Die Beiträge der Tagung untersuchen die mediale Darstellung und narrative Funktionalisierung des Aufzugs auf zwei Ebenen: In Bezug auf die filmisch inszenierte diegetische Welt wird gefragt, wie der Aufzug transitorische Momente des Aufeinandertreffens, Machtbeziehungen, Blicke und Handlungen organisiert und reflektiert; auf der Ebene der filmästhetischen Gestaltung geht es darum, wie der Aufzug die Struktur des Plots, die medialen Möglichkeiten des filmischen Zeigens, Verbergens und Montierens sowie die Aktualisierung oder Modifikation genrespezifischer Elemente und Funktionen in Szene setzt. Ausgehend von der kulturgeschichtlichen Aufzugsforschung (vgl. Bernard 2006; Simmen 2013) lassen sich vier narrative Funktionen des Aufzugs ausmachen:
Er bringt die Geschichte in Gang, indem er als Kreuzungspunkt von Figuren und Handlungssträngen dient oder simultan erzählte Biographien sowie Geschehnisse zusammenführt;
die Abgeschlossenheit der Kabine ermöglicht bestimmte (Handlungs-)Freiräume für die Passagiere, aber auch Transgressionen, denn im Aufzug kann man ein*e andere*r sein oder werden;
die (stecken gebliebene) Kabine fungiert zuweilen im Sinne eines profanen Beichtstuhls als Ort der Enthüllung, weil hier Dinge offenbar werden können, die vorher verdeckt geblieben sind und andernorts keinen Platz haben;
der Aufzug kann im erzählerischen Kontext für die Figuren zum Katalysator des Phantas(ma)tischen werden und so einen Einbruch des Imaginären ins (diegetisch) Reale provozieren.
Hypothesen zu Aufzügen im Film.— Angesichts dieser vielfältigen Funktionen, die filmischen Aufzugsszenen zukommen können, soll der notwendigerweise zunächst motivzentrierte Fokus bei einer Beschäftigung mit Aufzügen im Film in einer sowohl genre- als auch medientheoretischen Perspektive erweitert werden. Grundlegend wird davon ausgegangen, dass sich erst über das Medium ‚Film‘ erschließen lässt, welche vielgestaltigen Funktionen dem Aufzug in der Kultur der urbanen Moderne zukommen. Damit soll ein filmwissenschaftliches Desiderat in der bislang vor allem kulturhistorischen Aufzugforschung geschlossen werden, indem – in Ergänzung zu den eingangs beschriebenen narrativen Funktionen des Aufzugs – die folgenden Hypothesen in den Tagungsbeiträgen diskutiert werden:
Als (Miniatur-)Bühne verleiht der Aufzug der filmischen Inszenierung eine besondere Form von Theatralität.
Der Aufzug ermöglicht eine technisch vermittelte Dramatisierung menschlicher Interaktionen.
Der Aufzug fungiert als Vehikel für Genreeffekte und -hybridisierungen.
Die topische Verwendung des Aufzugs (etwa im Kontext von Arbeit) bildet eigene filmische (Sub-)Genres wie den Hotel- oder Bürofilm aus.
Als Heterotopie eröffnet der Aufzug neue Möglichkeiten zur Repräsentation und Reflexion von gender, class und race im Zeitalter scheinbarer sozialer Egalität.
Die Aufzugskabine erweist sich als ein ‚Ort am seidenen Faden‘, sodass hier besonders Prekarität, Unsicherheit und Fragilität darstellbar werden.
Im Nicht-Ort Aufzug wird der Mensch im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Integration und Isolation (zweitweise) verdinglicht.
Der Aufzug verkoppelt die Möglichkeit sozialer Dispersion und temporärer Verschollenheit.
FernUniversität in Hagen, 29.-30.06.2023 Irina Gradinari und Michael Niehaus
Die sogenannte Corona-Krise hat uns wie kein anderes Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg die Frage nach dem Staat vor Augen geführt. Was kann der Staat uns verbieten und von uns verlangen, was dürfen wir von ihm erwarten, woraus schöpft er seine Macht, wie ist sie beschränkt, worauf gründet sie? Solche Fragen drängen sich immer dann auf, wenn das eher unauffällige Funktionieren des Staates mehr oder weniger außer Kraft gesetzt ist: also im Ausnahmezustand. Aber in gewisser Weise greifen auch diese Frage zu kurz. Denn inwiefern ist „der Staat“ überhaupt ein Gegenüber? Konstituiert nicht erst der Ausnahmezustand dieses Gegenüber und konstituiert sich nicht dadurch auch das Uns als das „Kollektiv“, das dem Staat einerseits gegenübersteht, mit dem es sich aber andererseits auch identifizieren soll? Oder bringt erst der Ausnahmezustand zum Vorschein, wie es um ‚unser‘ Verhältnis zu ‚dem Staat‘ bestellt ist? Oder bringen wir den Staat erst performativ hervor? Wann fühlen wir uns als Bestandteil des Staates oder unter welchen Umständen tritt der Staat uns als ein Gegenüber auf? Solchen gesellschaftlichen Formationen liegen dabei Imaginationen zugrunde. Je nach Medium werden verschiedene Arten der Fiktionalität und somit der Kollektivität sowie diverse Anschlüsse an den Staat erzeugt. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands werden alle zugänglichen Medien mobilisiert, vor allem aber ist es das Aktualitätsmedium Fernsehen, das sich in der Krise als eine Art Staatsfernsehen zu erkennen gibt. Der Film hingegen ist gewissermaßen ein langfristigeres Medium, in dem unser Verhältnis zum Staat dargestellt und bearbeitet wird. Um dieses Verhältnis näher in den Blick zu nehmen und historisch zu differenzieren, möchten wir den Begriff des Staats-Genres erproben.
In Krisenzeiten, da bestimmte Formen von Herrschaftsgewalt einem jegliches Lachen austreiben mögen, andererseits Comedians die Verantwortung für die Staatsführung übernehmen können, ist die Frage nach dem Wechselverhältnis von Macht und Komik besonders brisant. Wenn man unter Macht die Möglichkeit versteht, sozial den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, kann Komik dabei in verschiedene Richtungen wirken: Sie kann helfen, Macht zu legitimieren, zu festigen und auszuüben – allzu oft wird von oben nach unten gelacht. Komik kann sich dagegen aber auch kritisch und subversiv mit ihren stärksten Gegnern anlegen, mit etablierten und todernsten Mächten in Politik, Religion oder Medienöffentlichkeit. In diesem doppelten Sinn diskutieren die Vorträge und Gespräche anschaulich die Macht der Komik, ihre Formen, Möglichkeiten und Grenzen.
Die Tagung des Kasseler Komik-Kolloquiums erfolgt diesmal in Kooperation mit dem Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der FernUniversität in Hagen. Die Veranstaltung ist öffentlich; eine Anmeldung ist nicht notwendig.
Veranstaltungsort:
Stadtteilzentrum Vorderer Westen Elfbuchenstraße 3, 34119 Kassel
Organisation:
Dr. Friedrich W. Block (Kassel) & Dr. Nils Jablonski (Hagen)
Alexander Brock (Halle) Cringe Comedy: Die Macht der Komik über Nähe und Distanz
Christiane Müller-Lüneschloß (Kiel) Hat Komik die Macht, die Welt zu verändern? Das Spiel mit Wirklichkeitsentwürfen bei Coline Serreau
Lisa Wolfson (Bochum) Kommunikationsstrategien des Putin-Regimes und seiner Gegner:innen im Kontext von Komik und Propaganda
Nils Jablonski (Hagen) “Putin has been overthrown!” – Wolodymyr Selenskyjs groteske Komik in Servant of the People (UA 2015-2019)
Fr / 12.5./ 10.00 bis 13.00 Uhr
Jennifer Neumann (Gießen) Komik als Mittel der Ermächtigung – Zu Form und Funktion humorbasierter Kommunikation in Krisenzeiten
Janet Russell (Halle) Hab ich dir erlaubt zu lachen? – Vom Dürfen und Können der Komik
Lutz Ellrich (Berlin) Ein unerhörtes Verhör – Notizen zur post-kafkaesken Komik
Tom Kindt (Fribourg) “Es is schon viel, wenn man überhaupt noch da is heutzutag”. Von der Macht literarischer Komik – Betrachtungen am Beispiel von Werken Bertolt Brechts
Kontakt:
Dr. Nils Jablonski FernUniversität in Hagen Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft Lehrgebiet Medienästhetik Universitätsstr. 33, D-58084 Hagen nils.jablonski
Im Rahmen der Forschungsgruppe Figurationen von Unsicherheit laden wir dazu ein, über Fragilität zu diskutieren. Die Forschungsgruppe fragt nach den historisch variablen Strukturen, Mechanismen und Kulturtechniken, mittels derer Gesellschaften Unsicherheiten hervorbringen, thematisieren und bearbeiten. Unsicherheit muss dabei nicht immer negativ verstanden werden, sondern kann auch produktiv gewendet werden. Diese Ambivalenz reflektiert auch der Begriff Fragilität. Er kann – positiv besetzt – eine besondere ästhetische und sinnliche Qualität (eines Kunstwerks, einer Existenzweise, eines kulturellen Zeugnisses) bezeichnen oder aber die Gefährdung oder Zerbrechlichkeit eines Gegenstands, so wenn wir von der Fragilität des Subjekts, der Infrastruktur, der Wirtschaft oder ganzer Staaten sprechen. Dennoch können Verletzlichkeit, Brüchigkeit und Ausgesetztsein neue Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten hervorbringen. Seine Ambivalenz macht den Begriff ‚Fragilität‘ überaus anschlussfähig für viele Debatten und begründet seine Konjunktur in unsicheren Zeiten. Der Fragilität kann man also durchaus etwas abgewinnen – was genau und auf welche Figurationen von Unsicherheit dies verweist, wollen wir auf der Tagung diskutieren.
Augenscheinlich vermehren sich gegenwärtig wieder die Diskurse ums Opfer. Das ist freilich keine gänzlich neue Entwicklung. Tatsächlich wurzeln sie nicht unbeträchtlich in den ästhetischen Entwicklungen der kulturellen Moderne zwischen 1760 und 1850. Im Drama wird das Sacrificium, das das Opfer ursprünglich gewesen ist, in eine Victima transformiert, oder genauer: Es wird die unschuldige Victima zum Sacrificium geadelt. Und das nicht zuletzt, indem jetzt das Drama die tragische Position geschlechtlich codiert: Die dramatische Erfolgsgattung schlechthin, das bürgerliche Trauerspiel, überformt die tragische Position geschlechteranthropologisch, das kulturelle Kapital der empathischen Identifikation wird vornehmlich für das weibliche Opfer mobilisiert. Komplementär nimmt männliche Täterschaft die antagonistische Position ein. Es war insbesondere Lessing, der die Position der tragischen Heldin genderbezogen codiert und sie einer metapoetischen Reflexion unterzogen hat. Das bürgerliche Trauerspiel popularisiert das gendercodierte Opferschema. Bald feiert es ähnlich oder kontrastiv auch auf der Opernbühne Erfolge, im Don Giovanni über die Norma und Lucia bis hin zum Musikdrama Wagners. Alsbald wird es von der jungen Gattung Roman, in Erzählungen und in der Romantheorie prestigeträchtig adaptiert, ablesbar an den allfälligen Verweisen auf Lessings Emilia Galotti als Intertext bei Blanckenburg, im Werther, in Lenz‘ Zerbino oder in Tiecks William Lovell. Die Marquise von O…., die Wahlverwandtschaften, Flaubert und Fontane beobachten die Gattungsgrenze zum Drama auf erzählerische Weise: Sowohl Emma Bovary als auch Effi Briest zelebrieren ihr Sterben in opferkultischen bzw. opfersemantischen Kontexten. Paradigmatisch führen sie die lange Liste prosaischer Distanzierungen von der Theatralität des Opfers im 19. Jahrhundert an. Zeichnen sich hier die Konturen einer Kritik der literarischen Viktimologie ab? Was geschieht mit der von Lessing mitbegründeten ästhetischen Opferpolitik, wenn die so überaus effektive Konstellation von Opfer und Drama narrativ in den Blick genommen wird? Jedenfalls zieht der Nexus zwischen Opferdramaturgie und Geschlecht weite Kreise durch die Prosa Bernhard Kellermanns, Ingeborg Bachmanns, Fritz Zorns, Bernward Vespers hindurch bis in die Gegenwart hinein, bis zu Michel Houellebecq, Jonas Lüscher, Anke Stelling oder Olga Tokarczuk. Hatte sich mit dem bürgerlichen Trauerspiel das weibliche Opferprivileg als dramaturgische Konstellation und als „Narrativ“ etabliert, viktimologisch wie sakrifiziell, gilt es zu fragen, was sich verändert haben könnte. Hinsichtlich des Dispositivs, hinsichtlich der Verteilung auf die Geschlechter, hinsichtlich von Opferpolitik, von Opferkritik und der Kritik der Opferkritik und darüber hinaus.
14:10 Prof. Dr. Uwe Steiner (FernUniversität in Hagen): „Lächerliches Unheil”. Vom Opfer im Drama zum Opfer in der Prosa. Zur Einführung (öffentlich)
15:10 Manusch Rimkus, M.A. (FernUniversität in Hagen): Geschlechterinversionen in Ludwig Tiecks Novelle Eigensinn und Laune
16:20 Dr. Malte Kleinwort (Ruhr-Universität Bochum): Aus der Opferrolle in den (vermeintlich) passiven Widerstand – Heinrich von Kleists Die Marquise von O...
17:00 Dr. Elke Kalb (FernUniversität in Hagen): Fontanes Arbeit am weiblichen Opfermythos oder die Darstellung weiblicher Widerstände gegen männliche Opferzumutungen
17:50 Dr. Wim Peeters (FernUniversität in Hagen): Die Opfer des selbstrationalisierten „großen Mannes“ – Bernhard Kellermanns Der Tunnel (1913)
19:30 Gemeinsames Abendessen im Restaurant Lubitsch
Samstag, 04. Februar 2023
10:00 Prof. Dr. Barbara Vinken (Ludwig-Maximilians-Universität München): Keynote: Das glückselige Opfer – Norma. Das tragische Opfer – Carmen (öffentlich)
11:50 Prof. Dr. Kentaro Kawashima (Keio University Tokyo): Ingeborg Bachmanns Me Too? – Über die Erzählung Undine geht
12:30 Diego León-Villagrá, M.A. (Freie Universität Berlin): „Jeder Mensch sollte gleich bei Geburt eine Rente bekommen […] denn er ist ein Opfer.“ Maskuline Opferdramaturgie in Fritz Zorns Mars und Bernward Vespers Die Reise (1977)
13:10–14:10 Mittagslunch im Campus Berlin
14:10 Sören Görlich, M.Ed. (Martin-Luther-Universität Halle): Blockierte Opferschaft: Unsichtbare Märtyrer einer bedrohten Männlichkeit in den Romanen von Michel Houellebecq (Les particules élémentaires, Sérotonine) und Jonas Lüscher (Kraft)
14:50 Simon Schoch, M.A. (New York University): Zum Opfer stilisiert. Klasse und Geschlecht in Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen
15:50 Dr. Karolina Sidowska / Dr. Monika Wąsik-Linder (Universität Lodz): Verdrängte Weiblichkeit schlägt zurück – Geschlechterrelationen in Empuzjon (2022) von Olga Tokarczuk
16:30 Prof. Dr. Kanichiro Omiya (University of Tokyo): Coda: Begnadete Helden oder ausgebliebene Opfer. Candide, Egmont, Prinz von Homburg und der Offizier in der Strafkolonie zwischen Rettung und Entehrung des Opfers (öffentlich)
17:30 Abschluss
Interne Förderung im Rahmen der Forschungsgruppe ›Gender Politics‹
Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medientheorie FernUniversität in Hagen | Universitätsstr. 33 | 58084 Hagen | Deutschland
Weihnachtsfilme lesen 2: Krisengeschichten
11. und 12. November 2022
Der Workshop findet am 11. und 12. November 2022 als Hybridveranstaltung in der FernUniversität in Hagen sowie online statt. Die Übernahme der Fahrt- und Übernachtungskosten ist geplant.
Veranstaltet wird der Workshop von Prof. Andrea Geier (Universität Trier), Jun.-Prof. Irina Gradinari (FernUniversität in Hagen) und Dr. Irmtraud Hnilica (FernUniversität in Hagen).
Anmeldungen wird erbeten, per Mail an Carolin Rolf: carolin.rolf
Wie kein anderer Feiertag ist Weihnachten als zentrales Ritual der westlichen christlichen Kultur mit Bedeutungen und Traditionen aufgeladen, die trotz ihrer universalen Anmutung einem historischen und vor allem medienästhetischen Wandel unterliegen. In der bestehenden Form hätte sich Weihnachten ohne den Film möglicherweise gar nicht etabliert. Filme sind Bestandteile unseres Wissens- und Wahrnehmungssystems, in dem Weihnachten mit Begehren und Ängsten, aktuellen Diskursen und politischen Imaginationen verwoben wird. „Weihnachtsfilme lesen“ ist daher grundsätzlich ein kulturwissenschaftliches Unterfangen, das gerade intersektionale Analyse möglich macht. Daher lohnt es sich, Weihnachtsfilme analytisch ernst zu nehmen. Mit einem Hybridworkshop und einer Online-Vortragsreihe im November und Dezember 2021 haben wir dieses Projekt begonnen.
Mit einem Workshop „Weihnachtsfilme lesen 2: Krisengeschichten“ soll es nun im November 2022 fortgesetzt werden. Während im Vorjahr insbesondere Race, Class und Gender im Zentrum der Analyse des Genres standen, soll es diesmal um Krisengeschichten gehen. Denn ganz entgegen dem Klischee, dass Weihnachtsfilme stets nur von der heilen Welt erzählten, zeigen gerade sie regelmäßig Krisen – unter anderem der Familie, der Liebe und der Genderrollen. Auch ökonomische Probleme spitzen sich anhand des Geschenkeimperativs rund um Weihnachten zu. Die mit Weihnachten verbundene Vorstellung besonderer Harmonie stellt einen besonders wirksamen Hintergrund dar, vor dem sich private wie soziale Verwerfungen umso schärfer abzeichnen. Gerade für diese, so die Prämisse des Workshops, interessieren sich Weihnachtsfilme in besonderer Weise. Im Fokus stehen Krisennarrative, Deregulierung und Verunsicherung als ästhetische Phänomene sowie diskursive Verhandlungsprozesse der (De-)Stabilisierung, vor allem aber genrespezifische Mechanismen der Weihnachtsfilme, Krisen darzustellen und zu beheben. Nach wie vor interessiert uns auch die Rolle, die Race, Class und Gender in diesen weihnachtlichen Krisenkonfigurationen spielen.
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Text/Körper. Ästhetiken und Praktiken literarischer (Un-)Sichtbarkeit
Tagung vom 03. bis 05. November 2022 an der Universität Trier & Online-Abendvorträge im WS 2022/2023
Veranstaltungsort: Gästeraum der Universität Trier (Campus I, Mensagebäude)
Organisation: Dr. Vanessa Höving (Hagen) und Jun.-Prof. Dr. Lena Wetenkamp (Trier)
Tagung und Vortragsreihe sind eine Kooperation der interdisziplinären Forschungsgruppe „Gender Politics“ an der FernUniversität in Hagen und des Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) der Universität Trier.
Tagung und Online-Vorträge werden per Zoom übertragen. Anmeldungen bitte per Mail an: cepog@uni-trier.de
Literatur produziert Textkörper auf zweifache Weise: Sie erschafft textuelle Korpora ebenso wie sprachlich dargestellte Körper und Körperbilder. Literatur zeigt sehende und gesehene, aber auch vielleicht sonst weniger wahrgenommene Körper. Gleichzeitig sind textuelle Korpora selbst Gegenstand von Sichtbarkeitsstrukturen: Dass Texte überhaupt rezipiert und für eine literarische Öffentlichkeit sowie die Literaturwissenschaft sichtbar werden, ist an diverse Marktfaktoren und Aufmerksamkeitsökonomien, aber auch technische Voraussetzungen geknüpft. Die Tagung „Text/Körper. Ästhetiken und Praktiken literarischer (Un-)Sichtbarkeit“ befasst sich mit diesen auf zweifache Weise verstandenen Textkörpern. Sie widmet sich erstens literarischen Körperrepräsentationen, epistemen und -techniken. Zweitens geht es um den literaturwissenschaftlichen Blick auf und den Umgang mit Textkörpern. Ziel ist eine synchrone und diachrone Auseinandersetzung mit Sichtverhältnissen und Verhandlungen von Körper und Korpus in der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, die auch die eigenen fachwissenschaftlichen Praktiken, Methoden und Narrative reflektiert.
15:30–15:45 Uhr / Vanessa Höving (Hagen) & Lena Wetenkamp (Trier): Begrüßung und Einführung
15:45–16:30 Uhr / Andrea Geier (Trier): Maskeraden „revisited“. (Interpretations-)Geschichten des Verbergens und Enthüllens
16:45–17:30 Uhr / Thomas Wortmann (Mannheim): Versehrung und Versehen. Körper in Heinrich Manns frühen Erzählungen
17:30–18:15 Uhr / Marius Reisener (Bonn): „Gazing Male(s).“ Blick- und Schwundformen männlicher Text-Körper (Kafka, Benjamin, Rilke)
FREITAG, 04. November 2022
10:00–10:45 Uhr / Franziska Bergmann (Aarhus): Marginalisiertes Sterben? Mitleidsökonomien und Hautfarbe in Friedrich Schillers „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“
10:45–11:30 Uhr / Irmtraud Hnilica (Hagen): Text/Tränen. Funktionen des Weinens im bürgerlichen Trauerspiel und Abolitionsdrama
11:45–12:30 Uhr / Klaus Birnstiel (Greifswald): Die zwei Körper des Krüppels. E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches genannt Zinnober“ als Scharade der Verkennung
12:30–13:15 Uhr / Urania Milevski (Bremen): Realismus im Zwielicht. Gewaltkonstellationen und Sichtverhältnisse in Ebner-Eschenbachs „Totenwacht“ (1894) und Holz/Schlafs „Kleine Emmi“ (1892)
14:45–15:30 Uhr / Vanessa Höving (Hagen): Körper versus Korpus. Verfahren der Sichtbarmachung in den Schriften Ernst Büchners
15:30–16:15 Uhr / Julia Reichenpfader (Mainz): Die klaffende Wunde blickt zurück. Hegemoniale (Sicht-)Verhältnisse in Charlotte Roches „Feuchtgebiete“
16:30–17:15 Uhr / Maha El Hissy (Berlin): Über-wachende Erzähler:innen: Fatma Aydemirs „Dschinns“
17:15–18:00 Uhr / Nina Tolksdorf (Berlin): Zur Virtualität des Körpers in Texten der Gegenwart
SAMSTAG, 05. November 2022
10:00–10:45 Uhr / Lena Wetenkamp (Trier): „Der freie Mann schaut die Natur“ – Gender und (un)mögliche Blickpositionen in der Literatur des 19. Jahrhunderts
10:45–11:30 Uhr / Melanie Rohner (Bern): „In dieser Hinsicht bist du weiß“. Zur Sichtbarkeit „weißer“ Körper bei Friedrich Dürrenmatt und Olivia Wenzel
11:45–12:30 Uhr / Luise Borek (Darmstadt): Digital und (un)sichtbar. Dynamiken digitaler Erschließung von Textzeugnissen
13. Dezember 2022, 18:00 Uhr Ervin Malakaj (Vancouver): Aerial Aesthetics, Queer Intimacy, and the Politics of Repose in the Cinema of Nils Bökamp and Monika Treut
17. Januar 2023, 18:00 Uhr Véronique Sina (Bochum): Epistemologie der (Un-)Sichtbarkeiten – Zur Darstellung jüdischer Körper in populären Bildmedien
CFP: Workshop „Opferdramaturgie und Viktimologie der Geschlechter in Prosa und Film (19. Jhd. bis zur Gegenwart)“, Berlin (30.09.2022)
Themenstellung
„Es kommt mir aber unmännlich vor, Frauen als Sündenböcke hinzumodeln“, sagt Kai Carlsen, der angehende Schriftsteller, in Ralf Rothmanns Roman Stier (1991). Er greift eine literarische Tradition auf, in der sich die kultur- und sozialgeschichtlich brisante Frage nach der Theatralität des Opfers mit einer geschlechtersemantischen Codierung verbindet.
Kulturanthropologischen Thesen zufolge (Benjamin 1928/1974, Burkert 1990, Girard 1992) entstand die Tragödie (altgriech. für „Bocksgesang“) aus dem Opferritual; der tragische Held könne als Kultursublimat des Sündenbocks verstanden werden. Für diese Auffassung spräche immerhin, dass die Kategorie des Opfers in der Geschichte der Tragödie und ihrer Poetik immer wieder reflektiert wird. Es ist das Drama, das im Zeitraum von 1760–1850 maßgeblich die kulturelle Transformation des Sacrificiums, das das Opfer ursprünglich gewesen ist, in eine Victima, oder genauer: die Adelung der unschuldigen Victima zum Sacrificium besorgt. Das Drama mobilisiert kulturelles Kapital für die Opfer, vornehmlich in Gestalt der empathischen Identifikation, und legt darin die Gründe noch für gegenwärtige Opferdiskurse in ihrer Legierung mit Genderproblematiken.
Die dramatische Erfolgsgattung schlechthin, das bürgerliche Trauerspiel (Mönch 1993), bringt die Funktion des tragischen Helden/der tragischen Heldin mit den seinerzeit akuten Diskursen der Geschlechteranthropologie (Honegger 1991, Kucklick 2008, Tosh 1999/2005) in Verbindung. Es war insbesondere Lessing, der die Position der tragischen Heldin genderbezogen codiert und sie einer metapoetischen Reflexion unterzogen hat. Seither besetzt auffallend häufig das weibliche Opfer die tragische Position und komplementär nimmt männliche Täterschaft die antagonistische Position ein.
Und so prägt Lessing ein wirkmächtiges Schema, das sich in mimetischer Anknüpfung oder Konkurrenz in der kanonischen oder den Kanon flankierenden Dramatik über Lenz, Klinger, Schiller, Gotter, Goethe und Kleist bis hin zu Hebbel, Grillparzer und darüber hinaus fortschreibt. Neu daran erscheint die explizite Reflexion der Geschlechtlichkeit in Verbindung mit der tragischen Funktion. Wir vermuten, dass die vom bürgerlichen Trauerspiel angekurbelte Dramenkonjunktur alsbald von der jungen Gattung Roman zum Prestigegewinn genutzt wird. Die Häufigkeit, mit der Lessings Emilia Galotti als Intertext adressiert wird, weist bereits darauf hin: In seiner Romantheorie behandelt Friedrich von Blanckenburg die Figur der Emilia als neben Agathon oder Musarion leuchtendes Vorbild für eine glaubwürdige, innen- wie außenmotivierte Charaktergestaltung. Romane oder Erzählungen wie Goethes Werther, Lenz‘ Zerbino, Ludwig Tiecks William Lovell,Kleists Marquise von O…., Goethes Wahlverwandtschaften, Flauberts Madame Bovary oder Fontanes Effi Briest werden die Gattungsgrenze und mit ihr geschlechtlich codierte Opferdramaturgien erzählend beobachten. Sowohl Emma Bovary als auch Effi Briest zelebrieren ihr Sterben in opferkultischen bzw. opfersemantischen Kontexten. Sie führen gleichsam die lange Liste paradigmatischer prosaischer Distanzierungen von der Theatralität des Opfers im 19. Jahrhundert an.
Das enge Band zwischen Gender, Tragödie und Opfer zieht sich durch Prosatexte von Arthur Schnitzler und Maria Janitschek, über Hermann Broch und Robert Musil bis in die Gegenwart hinein, zu Julia Franck, Elfriede Jelinek, Peter Handke oder, über die Literatur hinaus, bis hin zu Lars von Trier. Anscheinend hat sich das weibliche Opfer als dramaturgische Konstellation und als „Narrativ“ fest etabliert, viktimologisch wie sakrifiziell, diesseits wie jenseits von Bühne und Buch. In der erzählenden Beobachtung dramatischer Opferdynamiken seit dem 18. Jahrhundert lassen sich, zusammengefasst, in ästhetischer Hinsicht Tendenzen einer Paragone zwischen der wirkmächtigsten Gattung, als die das Drama im 18. Jahrhundert begriffen wurde, und den Kunstformen narrativer Vergegenwärtigung und Distanznahme erkennen. In kulturwissenschaftlicher Sicht zeichnen sich die Konturen einer Kritik der literarischen Viktimologie ab, einer Kritik der ästhetischen Opferpolitik, wie sie Lessing mitbegründet hat und deren Erfolge seither nie abgerissen sind.
Ziel des Workshops
Zugespitzt geht es auch darum, im Prosa- und Filmarchiv zu prüfen, inwiefern und in welchem Ausmaß der gesellschaftliche Wandel in der Reflexion von Geschlechterdifferenzen bis in die Gegenwart hinein auf die nachhaltige Wirksamkeit dieser spezifisch literarischen Opferkonstruktion angewiesen ist.
Dazu wollen wir anhand von stichprobenartig ausgewählten Beispielen die Wiederaufnahme oder Transgression der beschriebenen Opferdramaturgie in führenden Erzählmedien bis zur Gegenwart besser verstehen. Der Nachweis, dass die gattungspoetologischen Innovationen zutiefst in zeitgenössische geschlechteranthropologische Diskurse eingebettet sind, soll exemplarisch die kulturelle und geschlechterpolitische Brisanz ästhetischer, erzählender und dramatischer Gebilde erhellen und komplementär über die ästhetischen Dimensionen hinter den Diskursen und Praktiken aufklären.
Besonders zu beachtende Punkte:
Drama als Intertext
Ritual und Inszenierung
Ästhetik des Opfers und Nachahmungsdynamiken
Die Selbstpositionierung als Opfer
Opfer und Gender
Als Keynote konnten wir Prof. Dr. Barbara Vinken gewinnen.
Ders.: Gerechtigkeit für Odoardo Galotti. Ein Theatercoup mit Folgen: Wie Lessing das tragische Opfer geschlechteranthropologisch umwidmet und damit von Bodmer bis zur Gegenwart wirkt, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 95, Heft 1/März 2021, S. 43–80. http://link.springer.com/article/10.1007/s41245-021-00124-8
Der Workshop findet am 03. und 04. Februar 2023 im Campusstandort Berlin der FernUniversität in Hagen statt. Die Reise- und Übernachtungskosten können im üblichen Umfang übernommen werden. Eine Publikation der Beiträge in einem Sammelband ist geplant.
Für den Workshop erwarten wir von den Teilnehmer*innen zwei Wochen vor dem Workshop die ausformulierten Papers von acht bis zehn Seiten (max. 25. 000 Zeichen mit Leerzeichen), die im Workshop mittels eines Respondenz-Verfahrens von maximal 15 Minuten vorgestellt und danach diskutiert werden. Relevante Materialien (Textstellen, Abbildungen, Filmausschnitte etc.) können gerne mitverschickt werden.
Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 1 Seite) sowie eine Kurzbiografie bis zum 30. September 2022 an:
Geht es um die Rezeption von Literatur, wird auffallend häufig auf eine Digestions- und Stoffwechselmetaphorik zurückgegriffen: Von schwer oder leicht verdaulicher Kost ist ebenso die Rede wie von erbaulicher oder kräftigender Lektüre; Lesematerial erscheint als Schinken oder Schwarte, Rezipient*innen als Bücherwürmer. Stoffwechselprozesse sind zur Lebenserhaltung zwingend nötig, sie verantworten den Auf- und Abbau von Körpersubstanzen sowie ausscheidbarer Stoffe und generieren Energie. Nährstoffe werden dafür im Verdauungsvorgang verwertbar gemacht, um schließlich resorbiert zu werden und in den Blutkreislauf zu gelangen. Die Transformationsprozesse rund um Digestion und Metabolismus verweisen auf Verarbeitung, Distribution und Zirkulation sowie auf Verwertung und ihre Reste – schließlich umfassen Verdauungs- und Stoffwechselverfahren in letzter Konsequenz auch Vorgänge der Ausscheidung und Exkretion.
Die Literatur hat das ästhetische, rhetorische und poetologische Potenzial solcher Prozesse und Phänomene längst entdeckt, das zeigen einschlägige Texte wie beispielsweise E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, Wilhelm Raabes Odfeld und Stopfkuchen, James Joyces Finnegan’s Wake oder Günter Eichs Gedicht Latrine. Auch Georg Büchners Woyzeck verhandelt prominent Verdauungsfragen und schließt mit der literarischen Schilderung eines Nahrungsexperiments an zeitgenössische physiologische Versuchsanordnungen und deren Erkenntnisinteressen an. Bildende Kunst, Theater oder Film greifen ebenfalls auf Verdauungsprozesse und Körpermaterie zurück, etwa um Kunstökonomien zu kommentieren oder Fragen nach Präsenz und Körperlichkeit/Verkörperung sowie – u.a. im Fall des Cinéma Vomitif (vgl. Brottman 1997) – Rezeptionsästhetiken zu akzentuieren. Auch Kommunikations- und Medienphänomene, das zeigen die Termini Logorrhö oder Shitstorm, entbehren der digestiven Logik nicht. Aber auch die Philosophie arbeitet diese Logik durch, man denke an Hegel, der den dialektischen Prozess auf verschlungenen Wegen quasi zwischen dem Darmkanal des Polypen und dem Abendmahl von Brot und Wein zur Aufhebung kommen lässt. Nietzsches Zarathustra wiederum stellt, die Verdauungsmetaphorik des abendländischen Gedächtnisses vor Augen, dann auch fest: „Denn wahrlich meine Brüder, der Geist ist ein Magen!“.
Stoffwechsel und Verdauung verfügen – je nach Perspektive – über medizinische, kulturelle, gesellschaftliche, politische oder ökologische Dimensionen. Die dabei auftretenden Phänomene und Stoffe rücken schnell in eine tabuierte ‚dunkle Ecke‘, wenngleich jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten die variantenreiche Signifikanz abjekter Körpermaterie vermehrt herausstellen (vgl. z.B. Balke 2020; Breuer/Vidulić 2018; Werner 2011). Die psychoanalytische Analitätstheorien von Sigmund Freud, Ernest Jones oder Sándor Ferenczi schreiben Digestionsphänomenen subjektkonstituierende und zentrale kulturtheoretische Bedeutung zu. Jacques Lacan wählt daher nicht zufällig Toilettentüren als zentrales Beispiel für seine Theorie des Signifikanten aus. Slavoj Žižek folgt Lacan, indem er die hinter diesen Türen versteckten Toilettenschüsseln dazu nutzt, um an ihren Spülungen ideologische Positionen zu unterscheiden.
In Vilém Flussers Kommunikationstheorie avancieren informative Recyclingprozesse zum strukturierenden Modus von Welterfahrung und ‑erkenntnis überhaupt. Relevant sind Digestion und Metabolismus nicht zuletzt auch deshalb, weil sie unter der Differenz rein/unrein auf gesellschaftliche wie kulturelle Ein- und Ausschlussverfahren verweisen, die durch Hygiene- oder Zugehörigkeitsdiskurse reguliert werden (vgl. Douglas 1966/1998). In literaturtheoretischer Perspektive halten sie Signifikationspotenziale für Verfahren und Prozesse von Intertextualität oder Intermedialität bereit, lenken zudem den Blick auf literarische Diätetiken und der daraus resultierenden ‚Energie‘ und weisen darüber hinaus auf produktions- und wirkungsästhetische Konstellationen hin, die den Textkörper in seiner Infrastruktur betreffen.
Ziel der Tagung ist, eine breite Perspektive auf Stoffwechsel- und Digestionsphänomene zu gewinnen, die zum Teil von Tabuisierung betroffen sind. In der Auseinandersetzung mit diversen Ausformungen einer ars metabolica sind Fallstudien und close readings literarischer Texte und kultureller Artefakte ebenso willkommen wie Überlegungen zu Übertragungsprozessen zwischen Literatur, Kultur und Theorie. Aneignungs- und Ausschlussanordnungen oder Figurationen von Verwertung und Verwertbarkeit stellen ebenfalls mögliche Themen dar. Zu fragen ist, in welchen Kontexten und zu welchem Zweck Literatur, Kultur und Theorie auf Denkfiguren und Rhetoriken von Digestion und Metabolismus zurückgreifen, welche ästhetischen, poetologischen und poietischen Potenziale hier bereitstehen und worin eigentlich die in literarischen und kulturellen Digestions- und Stoffwechselprozessen freigesetzte ‚Energie‘ besteht.