Dimensionen von Geschlecht
Wenn es um Geschlecht geht, fallen viele verschiedene Begriffe. Unter manchen können sich die meisten Menschen etwas vorstellen, mit ihnen sind starke Überzeugungen verknüpft. Bei anderen sind sich viele unsicher, was genau damit gemeint ist. Was genau ist Geschlecht?
Einer der ersten Punkte, an den viele Menschen denken, wenn es um die Frage nach dem Geschlecht geht, ist die körperliche Entsprechung von Geschlecht. Im Englischen wird hier von ‚sex‘ gesprochen. Sie wird manchmal als ‚biologisches Geschlecht‘ oder als ‚Körpergeschlecht‘ bezeichnet. Das Körpergeschlecht hat vier Ebenen: Die äußerlich zu sehenden Genitalien, die Keimdrüsen, die Hormone und die Chromosomen.
Das Körpergeschlecht wird auch das ‚bei der Geburt zugewiesene Geschlecht‘ genannt. Diese Bezeichnung verdeutlicht, dass es sich dabei nicht um einen unumstößlichen Fakt, sondern um einen sozialen Prozess handelt: In aller Regel entscheiden Ärzt*innen ausschließlich anhand der äußeren Geschlechtsmerkmale, also primär den Genitalien, eines Kindes, welches (körperliche) Geschlecht dieses Kind habe. Das kann im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft geschehen oder bei der Geburt. Wenn ein Penis zu sehen ist, wird von einem Jungen gesprochen, bei einer Vulva von einem Mädchen. Diese Menschen sind cisgeschlechtlich - ihre auf den ersten Blick sichtbaren körperlichen Merkmale passen in die medizinischen Vorstellungen von einem Mädchen/ einer Frau beziehungsweise einem Jungen/ einem Mann. Weitere Untersuchungen hinsichtlich der anderen Ebenen körperlicher Geschlechtsmerkmale werden in den meisten Fällen nicht vorgenommen.
Zu ihnen kommt es nur im Fall von Kindern, deren äußeren Geschlechtsmerkmale aus medizinischer Sicht nicht klar in die Kategorie ‚Penis‘ oder ‚Vulva‘ fallen – bei ihnen werden auch die anderen Entsprechungen körperlicher Geschlechtlichkeit untersucht. Wenn die Mediziner*innen zu dem Ergebnis kommen, dass die angeborenen vier Entsprechungen von körperlichem Geschlecht (äußerlich, gonadal, chromosomal, hormonell) des jeweiligen Kindes nicht deckungsgleich sind, wird von Intergeschlechtlichkeit gesprochen.
Bei manchen inter* Menschen wird die Intergeschlechtlichkeit also schon im Rahmen der Geburt festgestellt. Bei anderen erst später im Leben und bei vielen anderen nie – weil nicht danach gesucht wird. Es handelt sich bei Intergeschlechtlichkeit um eine natürliche Variation der Geschlechtsmerkmale, die in den meisten Fällen keine medizinische Behandlung nötig macht.
Es zeigt sich, dass Geschlecht auch auf biologischer Ebene in jeder Hinsicht ein Spektrum ist. Die Medizin beschließt beispielsweise, welche Genitalien bis zu welchem Punkt Ausdruck welchen Geschlechts sein sollen. Deshalb kann auch mit Blick auf das Körpergeschlecht von einem sozialen, im Gegensatz zu einem ‚natürlichen‘, Prozess gesprochen werden. Das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht hat in unserer Gesellschaft den Ruf, unumstößlich sicher darüber Auskunft zu geben, welches Geschlecht ein Mensch hat – obwohl es für die meisten Menschen letztlich eine oberflächliche Kategorisierung von außen ist. Auch die biologische Ebene ist nicht frei von wertenden gesellschaftlichen Vorstellungen. Nichtsdestotrotz wird heute nach wie vor häufig indirekt auf die Genitalien verwiesen, wenn pauschal von der Geschlechtszughörigkeit eines Menschen gesprochen wird. Dabei gibt es darüber hinaus noch die Ebene der Geschlechtsidentität.
Im Englischen und inzwischen auch im Deutschen wird von ‚Gender‘ gesprochen, wenn es um die Geschlechtsidentität geht. Sie beschreibt die individuelle innere Überzeugung eines Menschen, einem, mehreren oder keinem Geschlecht anzugehören. Alternativ heißt es auch ‚geschlechtliches Selbstverständnis‘.
Welche Geschlechtsidentitäten es gibt, was sie jeweils bedeuten, welchen Status sie haben und wie sichtbar sie sind, ist je nach kulturellem und historischem Kontext unterschiedlich. In unserer Gesellschaft empfinden sich die meisten Menschen als Frau oder Mann, manche auch als nicht-binär (eine alternative Bezeichnung ist genderqueer).
Binarität bezieht sich dabei auf das System der Zweigeschlechtlichkeit (lat. bi = zwei) von Mann/ Frau. Manche Menschen nennen sich nicht-binär, wenn sie sich weder als Frau noch als Mann verstehen oder aber, wenn sie sagen, sie sind beides. Andere sehen ihre Geschlechtsidentität ganz unabhängig von diesem zweigeteilten Denken (agender). Wieder andere verstehen ihr Geschlecht als fließend und nicht dauerhaft festgelegt (genderfluid). Alternative Bezeichnungen sind nonbinary, genderqueer oder enby. Manche inter* Menschen nennen sich selbst nicht-binär, andere leben als Frau oder als Mann.
Die Geschlechtsidentität kann sich auf Körpermerkmale beziehen. Wenn sie mit dem bei der Geburt zugewiesenem Körpergeschlecht übereinstimmt, spricht man von Cisgeschlechtlichkeit – zum Beispiel ist eine Frau cis, wenn bei der Geburt gesagt wurde, sie sie ein Mädchen, und sie sich selbst auch als Mädchen/ Frau sieht. Wenn die Geschlechtsidentität eine andere ist als das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht, ist ein Mensch trans*. Diese Person sagt dann von sich, dass die körperliche Entsprechung ihres Geschlechts nicht (oder nicht immer) mit ihrem inneren Wissen ihrer Identität übereinstimmt. Viele trans* Menschen wissen schon als Kind, dass sie trans* sind oder haben ein Gefühl in diese Richtung. Oft fehlen die Worte für das eigene Empfinden oder vorsichtige Versuche anderen davon zu erzählen, werden direkt unterbunden, weshalb die weitere Auseinandersetzung damit verdrängt wird. Ob jemand trans* ist oder nicht, kann zu jedem Zeitpunkt im Leben realisiert werden. Meist dauert es von der ersten Realisation über das Eingestehen gegenüber sich selbst, dem ersten Erzählen bis gegebenenfalls zu weiteren Transitionsschritten viele Jahre. Das liegt auch daran, dass Transgeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft sanktioniert wird.
Die geschlechtliche Identität eines Menschen ist von außen nicht sichtbar. Jede Person kann nur selbst darüber Auskunft geben. Bei den meisten Menschen bleibt sie ein Leben lang gleich, sie kann sich aber auch verändern. Das bedeutet nicht, dass sie deswegen steuerbar wäre. Wie die geschlechtliche Identität letztlich gelebt und ausgedrückt wird ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hat auch immer mit dem sozialen und kulturellen Kontext zu tun, in dem sich eine Person befindet. Geschlechterstereotype geben einen kulturellen Rahmen vor und legen fest, welche nach außen sichtbaren Merkmale welches Geschlecht (angeblich) hat und haben soll. Daraus ergeben sich Geschlechterrollen. Wie jeder Mensch individuell damit umgeht, inwiefern er sich innerhalb dieser gesellschaftlichen Erwartungen bewegt oder auch draus ausbricht, ist Teil des Geschlechtsausdrucks.
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Der Geschlechtsausdruck meint die Art und Weise, wie Menschen ihre innerlich empfundene Geschlechtsidentität nach außen tragen. Dazu gehört, wie sie sich kleiden, ihre Haare tragen, wie sie sich bewegen oder stehen, gestikulieren, welche Mimik sie haben, wie sie sozial auftreten usw. All das ist geschlechtlich differenziert und wird oft als ‚eher männlich‘ oder ‚eher weiblich‘ wahrgenommen.
Der Geschlechtsausdruck kann in sich vielfältig, widersprüchlich oder wechselhaft sein. Eine Frau kann mal in Blümchenkleid und Absatzschuhen das Haus verlassen und mal in Lederboots und Jeansjacke – ihre Geschlechtsidentität bleibt die gleiche. Was hier allerdings deutlich wird: Anhand des Geschlechtsausdrucks ist nicht verlässlich abzuleiten, welche geschlechtliche Identität ein Mensch hat. Kurzhaarschnitt und Cargoshorts? In unserer Gesellschaft wird hier eher ein Mann vermutet. Stattdessen ist der Mensch vielleicht nicht-binär, vielleicht weiblich. Menschen verhalten sich zwar in der Regel (unbewusst) ihrer Identität entsprechend, um so in ihr erkannt zu werden (das nennt sich ‚doing gender‘). Allerdings brechen manche Menschen auch bewusst mit gesellschaftlichen Erwartungen oder können diese aus anderen Gründen (noch) nicht so erfolgreich erfüllen. Deshalb wird davon gesprochen, dass ein Mensch zum Beispiel ‚weiblich gelesen‘ wird, wenn dieser so auftritt, wie es der gesellschaftlichen Erwartungen einer Frau entspricht. Dadurch werden allerdings auch immer Stereotype gestärkt, weshalb dieser Ausdruck zweischneidig ist.
Ein Punkt, der häufig mit in den Topf geworfen wird, wenn es um Geschlecht geht, ist der der sexuellen beziehungsweise romantischen Orientierung. Darunter wird verstanden, von wem sich eine Person sexuell beziehungsweise romantisch angezogen fühlt, mit wem sie also zum Beispiel Sex haben oder eine Liebesbeziehung führen möchte.
Hier geht es also genau genommen nicht mehr um Geschlecht. Allerdings macht sich die sexuelle/ romantische Orientierung einer Person in der Regel daran fest, welche geschlechtliche Identität sie sich selbst zuschreibt. Ist ein Mann beispielsweise heterosexuell, meint er damit meist, dass er Frauen sexuell anziehend findet. Ist dieser Mann allerdings trans*, hat früher als Frau gelebt und fand auch da schon Frauen anziehend, hat er sich früher vielleicht lesbisch genannt.