Forschungsfeld Islam & Empire
Die aktuellen Konfliktlagen zwischen dem „Westen“ und der „Welt des Islams“ haben eine weitaus längere Vorgeschichte als so mancher journalistische, aber auch akademische Kommentar vermuten lässt. Daraus ergibt sich einerseits die Notwendigkeit, dem langen 19. wie dem frühen 20. Jahrhundert, die häufig in aktuellen Debatten wenig Berücksichtigung erfahren, größere Beachtung zu schenken. Andererseits ist festzuhalten, dass die Entwicklung der islamisch-europäischen Beziehung nicht von der imperialen Vergangenheit Europas getrennt werden kann. Die Forschungen unseres Lehrgebiets zum Verhältnis zwischen islamischen Gesellschaften und europäischen Kolonial- und Imperialmächten will aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive einen Beitrag zu diesem nach wie vor unterrepräsentierten Forschungsfeld leisten, indem sowohl die Beziehungen vor Ort zwischen Kolonialakteur*innen und Muslim*innen als auch deren Verarbeitung auf der wissensgeschichtlichen Ebene vergleichend thematisiert werden. Dabei verfolgen wir eine dreifache Fokussierung:
Zum einen konzentrieren wir uns zeitlich auf die Epoche zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg. Dies ist nicht nur im weitesten Sinne die Hochphase des (modernen) europäischen Kolonialismus und Imperialismus, sondern bildet eine für die muslimische Welt relevante Epoche, die anders gelagert ist als das vorrangig für Europa relevante „lange 19. Jahrhundert“. Der Untersuchungszeitraum wird vom Aufkommen reformerischer Ideen und Bewegungen im 18. Jahrhundert und von der staatlichen Unabhängigkeit der meisten muslimischen Länder in unmittelbarer Folge des Zweiten Weltkriegs begrenzt, ohne Rück- und Ausblicke zu verhindern.
Zum anderen nehmen wir in räumlicher Hinsicht die muslimischen Gesellschaften und koloniale Imperien entlang des Indischen Ozeans von Ostafrika über die südliche Arabische Halbinsel, den indischen Subkontinent, die Küsten des südostasiatischen Festlands bis hin zur malaiischen Inselwelt in den Blick. Der Indische Ozean stellte über Jahrhunderte einen dynamischen maritimen Verflechtungsraum dar, der die unterschiedlichsten muslimischen Gesellschaften miteinander in Beziehung setzte und für gegenseitige Beeinflussungen sorgte. Gleichzeitig erlebte er im Untersuchungszeitraum zunehmende Dominanzbestrebungen der europäischen Mächte, die einschneidenden Einfluss entwickelten, ohne letztendlich die Eigendynamiken der islamischen Welt beseitigen zu können.
Schließlich setzen unsere Untersuchungen an den kolonialen Akteur*innen und Strukturen an, wie sie in den Archiven der westlichen Metropolen, aber auch der postkolonialen Staaten in Afrika und Asien ihren Niederschlag gefunden haben. Die angestrebte vergleichende Perspektive erlaubt, raumübergreifende Strukturen und Muster unter den Beteiligten aller Seiten zu erkennen. Gleichwohl gilt es, sich der „europäischen Brille“ in der eigenen empirischen Arbeit anhand der aktuellen islamwissenschaftlichen und ethnologischen Forschungen auf kritische Weise bewusst zu sein und mit diesem Resonanzkörper für globalhistorische Erkenntnisse fruchtbar zu machen.
Projekte
Tagungspublikation „Islam und Empire. Muslimische Gesellschaften, islamische Bewegungen und europäischer Herrschaftsanspruch in Asien und Afrika“.
Beteiligte Personen
- Prof. Dr. Jürgen G. Nagel (Ansprechpartner)
- Ute Kemmerling M.A.