Sozialität, Alterität, Responsivität

Sozialphilosophie hat manchmal etwas vom Gang durch den Baumarkt. Denn eine ihrer zentralen Fragen, wenn nicht die zentrale Frage, lautet ja: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Und da regelmäßig, aus den verschiedensten politischen Richtungen, das Bröckeln des sozialen Zusammenhalts beklagt wird, streifen die Sozialphilosophen durch die Regale und suchen nach dem passenden Mörtel, Kitt oder Leim – manche auch einfach nach Hammer und Nagel. In den meisten Konzeptionen soll der Zusammenhalt der Gesellschaft durch irgendeine Art der Gemeinsamkeit gesichert werden: sei es eine gemeinsame Rechtsordnung, seien es gemeinsame Werte.

Am Lehrgebiet Philosophie III ändern wir die Blickrichtung: Was, wenn gar nicht so sehr das Gemeinsame, das, worin wir uns gleichen, von Interesse ist, sondern gerade die Differenzen zwischen den Individuen? Hier greifen wir besonders auf das Denken von Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas’ zurück, sowie auf dessen Weiterentwicklung durch Bernhard Waldenfels: Dort steht gerade der Andere, der Bruch, der Entzug im Vordergrund. Die Sozialphilosophie geht dann nicht von autonomen, unabhängig handelnden Subjekten und deren Vorstellungen, Zielen und Zwecken aus, sondern, mit Levinas gesprochen, vom Anspruch des Anderen, auf den wir immer schon auf irgendeine Weise antworten. Und andersherum betrachtet, zielt die Sozialphilosophie nicht darauf, eine ursprüngliche intime Gemeinschaft mit dem Anderen wiederherzustellen, sondern vielmehr die Differenz zu betonen, die im Subjekt, seiner Leiblichkeit und seiner Beziehung zu anderen persistiert und dazu führt, dass das Soziale nie zur Ruhe kommen kann, sondern von einer fortwährenden Beunruhigung heimgesucht wird.

Eine solche, alteritäts- und differenztheoretische Auffassung des Sozialen zu entwickeln, das ist das am weitesten zurückreichende Projekt des Lehrgebiets, aus dem bereits zahlreiche Publikationen entstanden sind. Auf einer allgemeineren Ebene haben wir das Thema in zwei Einführungen in die Sozialphilosophie, in Texten über die Figuren des Dritten, des sozialen Bandes oder die (doppelte) Asymmetrie des Sozialen behandelt. Aus dieser Perspektive werfen wir konkreter einen Blick auf Konzeptionen von Anerkennung, sprachlicher Gewalt oder auch auf Digitalisierung. Und natürlich prägt das Denken des Anderen auch unseren Blick auf das Politische oder auf unsere Leibkörperlichkeit – denn der Andere ist immer schon mit im Spiel.


Im Forschungsfeld Sozialphilosophie sind bisher u.a. folgende Arbeiten erschienen:

  • Steffen Herrmann: Ich – Andere – Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Freiburg: Alber 2018.
  • Thomas Bedorf und Steffen Herrmann (Hg.): Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt am Main: Campus 2016.
  • Sven Ellmers und Steffen Herrmann (Hg.): Korporation und Sittlichkeit. Zur Aktualität von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, München: Fink 2016.
  • Steffen Herrmann, Symbolische Verletzbarkeit. Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Levinas, Bielefeld: Transcript 2013.
  • Steffen K. Herrmann, Anerkennung und Abhängigkeit. Zur Bindungskraft gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse nach Hegel, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 62, Heft 2, 2014, S. 279-296.
  • Thomas Bedorf: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld: transcript 2011.
  • Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin: Suhrkamp 2010.
  • Hannes Kuch und Steffen K. Herrmann (Hg.): Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler, Weilerswist: Velbrück 2010.
  • Thomas Bedorf: Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München: Fink 2003.
09.04.2024