Phänomenologie des Politischen
Die Politik ist nicht unbedingt politisch. Was seltsam klingen mag, verdankt sich einer Unterscheidung, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Theoriebildung der politischen Philosophie durchgesetzt hat: derjenigen zwischen dem Politischen und der Politik. Während „Politik“ ziemlich genau das meint, was man sich landläufig darunter vorstellt – Wahlen, Parlamente, Ausschüsse – also Institutionen, Entscheidungsprozesse, und dergleichen mehr, ist „das Politische“ nicht so klar umrissen. Das ist keine Schwäche des Begriffs, sondern ein Charakteristikum der Sache selbst: Das Politische bezeichnet gerade die Störungen, Unterbrechungen und Umwälzungen des Normalbetriebs der Politik. Und das Interessante daran ist nun, dass es hier eben kein Kriterium gibt, mit dem man vorab bestimmen könnte, ob es sich nun um ein politisches Ereignis handelt oder nicht, sondern das Politische erst nachträglich als solches bestimmt wird.
Wie kann ein phänomenologischer Zugang zur „politischen Differenz“, der Unterscheidung des Politischen von der Politik, aussehen? Diese Frage erforschen wir am Lehrgebiet Philosophie III. Das Etikett „Phänomenologie“ wird von uns dabei weit gefasst, so dass neben der klassischen Phänomenologie von Edmund Husserl und Martin Heidegger und deren explizit politischen Fortentwicklungen bei Hannah Arendt und Frantz Fanon auch häretische Projekte wie das von Alain Badiou oder Jacques Rancière eine wichtige Rolle spielen – offenbleibt, ob sich in all diesen Ansätzen ein einheitliches Wesensmerkmal ausdrückt, oder ob es eher Familienähnlichkeiten sind, die zwischen ihnen herrschen. Im Ausgang von Ihnen beforschen wir das Feld des Politischen auf drei systematischen Ebenen: Auf der obersten Ebene untersuchen wir politische Phänomene wie Protest und Widerstand und politische Erfahrungen wie etwa Ressentiment oder Niedergedrücktheit. Darüber hinaus wenden wir uns einer phänomenologischen Ontologie des Politischen zu, um historische Erfahrungen des In-der-Welt-seins situativ in ihren ermöglichenden und verhindernden Dimensionen zu beschreiben. Auf der Ebene politischer Episteme schließlich dient uns die Phänomenologie dazu, Erfahrungs-, Denk- und Wissensordnungen als Schauplätze politischer Kämpfe über die Einrichtung unserer gemeinsamen Welt zu beschreiben.
Der systematische Zugang zum Feld des Politischen erlaubt es uns, in unseren Forschungen einen neuen Blick auf Fragen von Rassismus und Postkolonialismus, von Geschlechter- und Klassenverhältnissen, wie auch von zivilem Ungehorsam und Revolution zu werfen. In den Blick geraten dabei vor allem die Phänomene Streit und Stiftung. Ausgehend vom phänomenologischen Begriff der Stiftung lässt sich etwa zeigen, dass demokratische Ordnungen ihrem Wesen nach bodenlos sind und sich im Zuge von Instituierungsprozessen stets neu gründen und verstetigen müssen, wodurch sie die Möglichkeit politischer Veränderung latent stets mit sich führen. In der Folge zeigen Arbeiten zur Unaufhebbarkeit tiefer Meinungsverschiedenheiten im demokratischen Prozess, dass politischer Streit kein Defizit des Demokratischen darstellt, sondern vielmehr als Ausdruck der Pluralität von demokratischen Lebensformen verstanden werden muss. Eine der Pointen der politischen Phänomenologie lautet daher, dass dasjenige, was uns verbindet, weniger das ist, was uns allen gemeinsam ist, sondern vielmehr der Streit um dasjenige, was uns voneinander trennt.
Im Forschungsfeld Phänomenologie des Politischen sind bisher u.a. folgende Arbeiten erschienen:
- Steffen Herrmann: Demokratischer Streit. Eine Phänomenologie des Politischen, Baden-Baden: Nomos (erscheint Oktober 2023).
- Thomas Bedorf: „Institutionen und Revolution“, in: Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy, Bd. 8, Heft 1, 2021, 51-77, https://doi.org/10.19079/metodo.8.1.51 .
- Steffen Herrmann: „Populismus als Politik der Herabsetzung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 69, Heft 3, 2021, 438-449, DOI: 10.1515/dzph-2021-0036 .
- Thomas Bedorf und Steffen Herrmann (Hg.): Political Phenomenology. Experience, Ontology, Episteme, London: Routledge 2019.
- Steffen Herrmann: „Demokratische Urteilskraft nach Arendt“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Bd. 6, Heft 1, 2019, S. 179-210.
- Thomas Bedorf: „Politische Gefühle“, in: Thomas Bedorf u. Tobias Nikolaus Klass (Hg.), Leib – Körper – Politik. Untersuchungen zur Leiblichkeit des Politischen, Weilerswist: Velbrück 2015, 249-265 (= Kulturen der Leiblichkeit, Bd. 2).
- Thomas Bedorf und Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin: Suhrkamp 2010.