Hinweise zur juristischen Fallbearbeitung

Hinweise zur juristischen Fallbearbeitung im Grundstudium Wirtschaftswissenschaft oder „Was ist bei der Bearbeitung eines juristischen Falles konkret zu tun?“

Die materiellen Rechtskenntnisse haben Sie bereits durch das Durcharbeiten der Kursunterlagen erworben. Was Sie nun noch zur erfolgreichen Bearbeitung eines Rechtsfalles benötigen, ist die Fähigkeit, diese Kenntnisse auf die Lösung eines konkreten Falles anzuwenden: juristische Arbeitstechnik also. Diese wird Ihnen im Folgenden anhand eines Beispielsfalls vorgestellt.

Beispielfall: „Motorradbekleidung“

I ist Inhaber eines Geschäfts für Motorradbekleidung und sonstiges Zubehör. Er ist unter der Firma "Ingo Integral Motorradbekleidung e.K" in das Handelsregister eingetragen und unterhält drei Filialen mit insgesamt 30 Mitarbeitern. Am 1.11.2017 erteilt I dem P Prokura, die auch umgehend in das Handelsregister eingetragen wird. P nutzt seine neuen Entscheidungsspielräume und erwirbt von G am 3.3.2018 einen neuen Firmenwagen der Luxusklasse zu einem Preis von 100.000 € für das Motorradbekleidungsgeschäft. I, der kurze Zeit später aufgrund von Transaktionen an der Börse zu unerwartetem Reichtum gelangt ist, beschließt mit diesem Geld auszuwandern und verpachtet sein Unternehmen am 1.5.2018 an E, der das Geschäft in den gleichen Geschäftsräumen unter dem Namen des I fortführt. Am 1.6.2018 verlangt G von E die Bezahlung des Autos. Dieser meint, er wolle den Luxuswagen auf keinen Fall bezahlen.

Hat G gegen E einen Anspruch auf Zahlung von 100.000 €?

I. Sachverhalt lesen

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Der unabdingbar erste Schritt in der Klausur ist es, den Sachverhalt zu lesen. Lesen Sie den Sachverhaltstext trotz möglicher "Klausuraufgeregtheit" in Ruhe. Lesen Sie ihn mehrfach, also mindestens zweimal.
Für die Bearbeitung des Klausurfalles werden nur die vorgegebenen Tatsachen gebraucht. Sie können davon ausgehen, dass alle im Aufgabentext genannten Sachverhaltselemente von Bedeutung sind.

II. Skizze anfertigen

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Um die Angaben im Sachverhalt für die Fallbearbeitung zu ordnen, kann es sich anbieten, zunächst eine Skizze anzufertigen. Dies ist etwa dann sinnvoll, wenn der Sachverhalt mehrere beteiligte Personen nennt und deutlich gemacht werden soll, in welcher rechtlichen Beziehung diese zueinander stehen.

Hilfreich kann eine solche Skizze auch sein, wenn in einem Fall mehrere Zeitangaben eine Rolle spielen.

III. Fallfrage ansehen

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Die Fallfrage und nur diese ist Ihre Arbeitsanweisung.

Beispiel: Kann G von E die Zahlung von 100.000 € verlangen?
Bei einer solchen Fallfrage ist nur und ausschließlich danach zu suchen, aus welchen rechtlichen Gründen G von E Zahlung verlangen kann. Ansprüche sonstiger Personen sind nicht von Belang. In unserem Beispielsfall sind also Ansprüche gegen den früheren Inhaber, I, nicht zu untersuchen.
Fallfragen können auch komplexer sein.

Beispiel: Wie ist die Rechtslage?

Dann müssen Sie als Bearbeiter die Fallfrage konkretisieren und dies tun Sie mit der Frage:

Wer will was von wem woraus?“

„Wer will was von wem?“ bedeutet, dass Sie sich zunächst vergegenwärtigen, welche die für die Falllösung relevanten Personen sind. Es ist festzustellen, wer einen Anspruch geltend machen kann und gegen wen sich dieser Anspruch richtet.
„Was“ die Beteiligten verlangen, ergibt sich aus dem Gesamtkontext des Sachverhaltes.
Als mögliche Begehren kommen etwa:

  • eine Geldzahlung
  • die Herausgabe einer Sache
  • die Lieferung einer Ware oder
  • das Unterlassen einer bestimmten Handlung

in Frage.
Nach dem Begehren richtet sich dann, welche Anspruchsgrundlage dafür in Betracht kommen kann. Dies ist die Frage nach dem "woraus". Gefragt ist nach dem Recht von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Dieses nennt man Anspruch (§ 194 Abs. 1 BGB), und die konkrete Norm auf deren Grundlage man das überprüft, ist die sog. Anspruchsgrundlage.

Anspruchsgrundlage ist jede Norm, die in abstrakter Form
Antwort auf die konkret gestellte Fallfrage gibt.

IV. Lösung strukturieren

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Notieren Sie in diesem ersten Lesedurchgang alle Anspruchsgrundlagen, die Ihnen einfallen. Die Erfahrung lehrt, dass man später "im Eifer des Gefechts" vergisst, was man anfangs für selbstverständlich hielt. Lesen Sie den Sachverhalt ein weiteres Mal und überlegen Sie, ob noch weitere Anspruchsgrundlagen in Frage kommen. Anschließend nummerieren Sie die Anspruchsgrundlagen in der Reihenfolge, in der Sie sie prüfen wollen.

In dem Beispielsfall könnte man denken an:

1. § 433 Abs. 2 BGB

und

2. § 25 Abs. 1 S. 1 HGB.

Nun beginnt die Feinarbeit. Verwenden Sie hierfür ein neues Blatt und notieren Sie bei jeder Anspruchsgrundlage die einzelnen Tatbestandsmerkmale.

Faustregel: Jedes Wort des Gesetzestextes muss behandelt werden.

Gedanklich ist an dieser Stelle das Tatbestandsmerkmal schon abstrakt zu definieren und zu prüfen, ob es im konkreten Fall erfüllt ist. Vermerken Sie das Ergebnis, indem Sie hinter das jeweilige Tatbestandsmerkmal ein Plus oder Minus setzen.

Dies sind also die Arbeitsschritte:

  • Das Tatbestandsmerkmal nennen
  • Das Tatbestandsmerkmal definieren
  • Prüfen, ob sich diese abstrakte Definition und
    die konkreten Sachverhalsangaben decken
  • Das Ergebnis feststellen

Das ist das ganze Geheimnis der sogenannten "Subsumtion".
Sinn und Zweck dieser Technik?

Sie stellen sicher, dass Sie alle Tatbestandsmerkmale prüfen, um zum Schluss exakt bestimmen zu können, ob die Rechtsfolge eintritt,

Tbm 1 + Tbm 2 + Tbm 3 + Tbm x = Rechtsfolge

und diese Arbeitsweise dient dazu, Ihre Überlegungen und später den Text sinnvoll zu strukturieren!

...nun die Lösungsskizze für unseren Beispielsfall.

Zum Schluss empfiehlt es sich, den Sachverhalt nochmals zu lesen, um festzustellen, ob alle Sachverhaltselemente rechtlich gewürdigt wurden. In aller Regel enthält ein Sachverhalt nichts Überflüssiges, d.h. alle genannten Umstände haben für die rechtliche Bearbeitung eine Bedeutung.

V. Text formulieren

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Anhand der stichpunktartigen Lösungsskizze wird es Ihnen nun gelingen, eine Lösung anzufertigen, bei der die Tatbestandsmerkmale der anzuwendenden Normen vollständig gutachterlich, d.h. mit der oben bereits beschriebenen Subsumtionstechnik, geprüft werden.

...und nun noch ein Wort zu dem sogenannten "Gutachtenstil":

Die Einhaltung des Gutachtenstils bedeutet, dass Sie auch sprachlich zum Ausdruck bringen, dass Sie die oben genannten logischen Prüfschritte vornehmen und die Tatbestandsmerkmale des Gesetzes systematisch prüfen.

Machen Sie also auch sprachlich deutlich, dass Sie erst „prüfen“,
was Sie zum Schluss feststellen werden.

Ihre Anspruchsgrundlage ist die Hypothese,
und erst mit dem letzten Satz Ihres Gutachtens steht fest, ob sie hält.

VI. Zeit einteilen

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Wie viel Zeit auf die einzelnen Arbeitsschritte von dem Lesen des Sachverhaltes bis zum Ausformulieren der Lösung zu verwenden ist, kann individuell und von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Die hier vorgeschlagenen Werte dienen der groben Orientierung:

I. Sachverhalt lesen
II. Skizze anfertigen
ca. 15 Minuten
III. Fallfrage ansehen ca. 5 Minuten
IV. Lösung strukturieren ca. 20 - 30 Minuten
V. Text schreiben ca. 70 - 80 Minuten

Die individuell beste Zeitgestaltung zu finden, ist eine Sache der Übung. Sie können z.B. Einsendearbeiten zum Üben benutzen. Lösen Sie sie unter Klausurbedingungen (zwei Stunden Bearbeitungszeit, Hilfsmittel: Gesetzestext), und finden Sie auf diese Weise heraus, welches die für Sie optimale Zeiteinteilung zur Lösung eines Klausurfalles ist.

....und zum guten Schluss noch Folgendes:

Es empfiehlt sich, einen (zumindest kleinen) Teil Ihrer Energie auf ein ansprechendes Aussehen des Textes zu verwenden. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Sie sich bemühen sollten, leserlich zu schreiben.

Lösungsskizze: Fall „Motorradbekleidung“

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I. AGL: § 433 Abs. 2 BGB

  1. Kaufvertrag zwischen G und E (-)
  2. Ergebnis: Anspruch (-)

II. AGL: § 25 Abs. 1 S. 1 HGB

  1. "Handelsgeschäft"
    Kaufmannseigenschaft nach § 1 Abs. 2 HGB
    • Gewerbe
      Definition: selbstständ., planmäßig, erkennb. Mindestorganisation,
      entgeltl. Leistung auf zugängl. Markt, auf Dauer angelegt, erlaubt,
      Gewinnerzielungsabsicht (+)
    • b. nach Art u. Umfang kaufmänn. Einrichtungen (+)
      (Vielfalt der Erzeugnisse und Leistungen, Umsatzvolumen, Zahl
      und Funktion der beschäftigten Mitarbeiter etc.)
  2. Erwerb unter Lebenden; Unternehmensübertragung auf andere Weise
    als durch Erbfolge;
    erforderlich ist die Übertragung des Unternehmens als betriebsfähige Wirtschaftseinheit, gerade nicht die (dingliche) Übertragung des Unternehmensvermögens: Pachtvertrag gem. § 581 BGB grds. (+)
  3. Fortführung des Handelsgeschäfts durch E (+)
  4. Firmenfortführung (+)
  5. Verbindlichkeit des früheren Inhabers: § 433 Abs. 2 BGB
    • Kaufvertrag; Vertragsschluss durch Willenserklärung des I (-)
    • Stellvertretung durch P, § 164 Abs. 1 S. 1 BGB
      aa. WE des P (+)
      bb. im Namen des G, § 164 Abs. 1 S. 2 BGB
      cc. Vertretungsmacht, § 49 Abs. 1 HGB
      aaa. Erteilung der Prokura, § 48 Abs. 1 HGB (+)
      (1) I = Kaufmann (+)
      (2) ausdrücklich (+)
      bbb. Umfang, § 49 Abs. 1 HGB
      dd. Zwischenergebnis: Vertrag I und G (+)
  6. im Betriebe des Geschäfts begründet: keine Privatverbindlichkeit (+)
    Nachdem Sie Ansprüche gefunden haben, die eine Person gegen eine andere hat, überlegen Sie in einem letzten Schritt, ob diesen Ansprüchen Hindernisse entgegenstehen.
    ... in dem Beispielsfall ist ein möglicher Haftungsausschluss zu prüfen, also:
  7. Haftungsausschluss nach § 25 Abs. 2 HGB (-)
  8. Ergebnis: Anspruch des G gegen E (+)

Lösungsformulierung: Fall „Motorradbekleidung“

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G könnte gegen E einen Anspruch auf Zahlung von 100.000 € aus § 25 Abs. 1 S. 1 HGB haben.

Dies setzt voraus, dass E ein Handelsgeschäft erworben hat, es unter der bisherigen Firma fortführt und dass eine Verbindlichkeit des früheren Inhabers, I, besteht.

Zunächst ist also zu prüfen, ob I ein Handelsgeschäft betrieben hat.

= das Tatbestandsmerkmal wird genannt

Der Begriff "Handelsgeschäft" wird in § 25 Abs. 1 S. 1 HGB in dem Sinne verstanden, dass damit der Betrieb eines Handelsgewerbes, also die Kaufmannseigenschaft, gemeint ist.

= das Tatbestandsmerkmal wird definiert

I müsste also Kaufmann gewesen sein.

Nach § 1 Abs. 1 HGB ist Kaufmann, wer ein Handelsgewerbe betreibt. Die Kaufmannseigenschaft nach § 1 Abs. 2 HGB setzt zunächst voraus, dass ein Gewerbe betrieben wird und dass es sich bei diesem Gewerbe um ein Handelsgewerbe handelt. Letzteres ist der Fall, sofern das Unternehmen einen nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert.

Ein Gewerbe im Sinne des § 1 HGB ist jede selbstständige, auf Dauer angelegte Tätigkeit, bei der im Rahmen einer erkennbaren Mindestorganisation auf einem frei zugänglichen Markt entgeltliche Leistungen erbracht werden. Dabei darf es sich nicht um eine freiberufliche, künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeit handeln.

Von der Rechtsprechung wird zudem verlangt, dass die Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt wird. Umstritten ist, ob sie erlaubt sein muss.

= wieder wird ein Tatbestandsmerkmal definiert

I verkaufte in seinem Geschäft dauerhaft Motorradbekleidung und Zubehör. Er verfügte über Ladenlokale und Mitarbeiter. Eine Mindestorganisation ist also vorhanden. Die Tätigkeit war auch erlaubt und auf Gewinnerzielung gerichtet, so dass es auf die Streitfragen, die dazu bestehen, nicht ankommt.

= die Sachverhaltsangaben passen unter das Tatbestandsmerkmal

I betrieb also ein Gewerbe.

= das Ergebnis wird festgestellt.

Auf diese Art und Weise erstellen Sie entlang der zuvor erarbeiteten Lösungsskizze eine gut strukturierte, logisch nachvollziehbare Lösung.

Wenn Sie mögen, können Sie nun die Lösung des Beispielsfalles mit der beschriebenen Arbeitstechnik fortsetzen.

08.04.2024