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Umgang von Hochschulen mit Krisen und Konflikten
[04.09.2024]Nahostkonflikt, Ukrainekrieg, Klimakrise, KI-Revolution – wie können sich Unis fit machen für unruhige Zeiten und ihre Herausforderungen? Dazu forscht Dr. Len Ole Schäfer.
An vielen Hochschulen geht die aktuelle Situation nicht spurlos vorbei. Proteste, Hörsaal-Besetzungen, verbale oder auch körperliche Attacken sorgen für Schlagzeilen. „Ich will herausfinden, wie Hochschulen in Zukunft gestaltet sein sollten, um solchen Herausforderungen zu begegnen“, erklärt Schäfer, der am Forschungszentrum CATALPA, Center of Advanced Technology for Assisted Learning and Predictive Analytics, als Organisationssoziologe tätig ist.
Politische Entwicklungen und technologische Umbrüche
In Len Ole Schäfers Forschung geht es um Verletzlichkeit der universitären Strukturen vor, während und nach einer Krise, oder – im Fachjargon – um die Vulnerabilität der Organisation Hochschule. Nicht nur politische Entwicklungen können solche Krisen auslösen, sondern beispielsweise auch technologische Umbrüche.
Derzeit lässt sich dies an den neuen Anforderungen beobachten, die sich durch Künstliche Intelligenz für Bildungseinrichtungen ergeben. Auch Cyberkriminalität sei für die Hochschulen eine große Herausforderung. „Das Thema Vulnerabilität ist also sehr zeitaktuell und gesellschaftlich relevant“, sagt er.
Aus der Corona-Zeit für die Zukunft lernen
Intensiv hat Schäfer auch die Situation der Hochschulen während der Coronakrise beobachtet. Unter anderem aus dieser Zeit versucht er nun, Lehren für die Zukunft zu ziehen. „Damals haben viele Universitäten Krisenstäbe implementiert“, sagt Schäfer. „Nun ist die Frage, inwiefern solche Krisenstäbe auch weiterhin aktiv sind, um Risiken für die Organisation Hochschule frühzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können.“ Ziel müsse es sein, nicht nur ad hoc zu reagieren, sondern kritische Situationen zu antizipieren und zu reflektieren und sie so souverän bewältigen zu können.
Diese Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, die ermöglicht, schwierige Situationen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen, wird fachsprachlich als Resilienz bezeichnet. „Einfach formuliert versteht man darunter die Fähigkeit, Krisen und Schocks frühzeitig zu erkennen, sie zu bewältigen und Kapazitäten für neue unerwartete Ereignisse freizusetzen“, erklärt Schäfer. Ursprünglich kommt das Konzept von Resilienz aus der Physik und bezieht sich auf die Elastizität unter Druck. „Aber es lässt sich sehr gut auf die Forschung zu Organisationen übertragen“, sagt er.
Die Rolle von Bildungstechnologien und Künstlicher Intelligenz
Swiss Sociological Association Congress
„Vulnerable Societies: Risks and Responses“ lautet der Titel des Kongresses in Basel/Muttenz vom 9.-11. September 2024. Mehr Infos zum gesamten Tagungsprogramm hier (Englisch).
Bei der aktuellen Konferenz der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Basel/Muttenz bringt Schäfer gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Philippe Saner von der Universität Luzern Forschende verschiedener Länder zum Thema in einer Plenumssitzung und einem Workshop zusammen. Im Fokus steht dabei besonders die Rolle, die Bildungstechnologien und künstliche Intelligenz für die Resilienz von Schulen und Hochschulen spielen. KI-Technologie etwa stellt bestehende Lehr- und Lernmethoden teilweise in Frage – lässt sich aber auch als Chance betrachten.
Schäfer forscht seit zehn Jahren zu Hochschulen. Mit der Rolle von Bildungstechnologien setzt er sich intensiv bei seiner Arbeit am Forschungszentrum CATALPA auseinander. „Mit diesem Kongress wird daher für mich vieles zusammengeführt, mit dem ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige“, sagt er. Insofern sei für ihn die Konferenz, die an drei Tagen das Thema Vulnerabilität der Gesellschaft in verschiedenen Facetten beleuchtet, ein echter Meilenstein.
Neugier und Offenheit für unbekannte Situationen
Schäfer und sein Kollege Saner wollen dabei am Beispiel von Bildungseinrichtungen aufzeigen, wie eng Vulnerabilität und Resilienz zusammenhängen. Hintergrund ist eine differenzierte Analyse der Strukturen und Dynamiken innerhalb und zwischen Organisationen. „In jeder Hochschule gibt es beispielsweise organisationale Mythen, die sich verfestigt haben und gesellschaftlich legitimiert werden", erklärt Schäfer. „Zum Beispiel den Mythos der Chancengleichheit. Wenn man sich aber konkret anschaut, wie es mit den sozioökonomischen Chancen von Studierenden aus Arbeiterfamilien aussieht, stellt sich das Bild vielleicht ganz anders dar.” Je mehr solcher innerer Widersprüche es gebe, desto anfälliger seien Organisationen für Krisen und Konflikte.
Bei seiner Forschung steht für Schäfer der wissenschaftliche Erkenntnisdrang im Vordergrund: „Mir geht es darum, wissenschaftlich fundiert zu analysieren, anstatt die Polarisierung in der Gesellschaft anzufeuern”, sagt er.
Aus diesen Analysen leitet er aktuell gemeinsam mit seinem Kollegen Saner Hinweise für die Praxis ab, die zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen können. Einer davon: Der Umgang mit einer Krise ist entscheidend. Stellt sich eine Einrichtung mit Geschlossenheit und Ignoranz gegenüber dem Neuen auf, bezeichnen die beiden Forschenden dies als regressive Vulnerabilität. Dem gegenüber steht die progressive Vulnerabilität, also eine Offenheit und Neugier, die die unbekannte Situation als Chance für Lernen und Reflexion begreift. „Wenn frühzeitig ein offener Diskurs geführt wird, der alle Positionen und insbesondere Ängste integriert, dann liegt in der Vulnerabilität durch eine Krise ein enormes Wachstumspotenzial“, so Schäfer. Wichtig sei dabei, sowohl die offiziellen Strukturen der Organisation Hochschule als auch die informellen Netzwerke in den Diskurs zu integrieren.
Denn die Herausforderungen für Hochschulen, so ist sich Schäfer sicher, werden auch in Zukunft nicht abnehmen. „Deshalb hoffe ich, dass ich mit meiner Forschung auch ein Stück zur Lösung dieser gesellschaftlichen Probleme beitragen kann“, sagt er.