Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Hongkong als offener Hafen zwischen den Welten –
ein Zeitzeugengespräch über koloniales Gedächtnis, demokratischen Protest und migrantische Identität
16. Oktober 2024, 18 Uhr
Chiu Kit Lam, B.Eng. (Vorstandsmitglied des Vereins „Freiheit für Hongkong“, Berlin) im Gespräch mit Dr. Werner Daum (Verfassungshistoriker, Leiter des Campus Karlsruhe der FernUniversität in Hagen)
Flyer zur Veranstaltung (PDF 152 KB)
Freiheit für Hongkong und die (Ohn-)Macht der Geschichte – kulturelle Eigenarten und Gemeinsamkeiten zwischen Hongkong und Deutschland
„In Hongkong sind wir ein Volk ohne richtige Geschichte, denn diese Hongkonger Identität gab es erst nach der Übergabe“, brachte Chiu Kit Lam (Vorstandsmitglied des Vereins „Freiheit für Hongkong“) die Herausbildung eines Eigenbewusstseins in der fernöstlichen Hafenmetropole nach dem „Handover“ an die Volksrepublik China 1997 auf den Punkt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gespräche am Tor“ hatte die FernUniversität den Hongkong-Deutschen auf den Campus Karlsruhe geladen, um vor dem Hintergrund der aktuellen Lage Hongkongs über die eigene Lebenserfahrung zwischen beiden Kulturkreisen zu sprechen. Im Dialog näherten sich Chiu Kit Lam und Werner Daum dem Thema somit aus einer sehr persönlichen Perspektive, die in drei thematischen Gesprächsrunden ein neues Licht auf die historische Rolle und gegenwärtige Bedeutung Hongkongs warf.
Zunächst befasste sich das Zeitzeugengespräch mit der Entwicklung der persönlichen Lebenswelt und politischen Kultur in Hongkong unmittelbar nach der Rückgabe der vormaligen britischen Kronkolonie an die VR China. Die Schulerfahrung Chiu Kits war zwar nach 1997 bereits von einer subtilen nationalchinesischen Erziehung („National Education“) geprägt, zugleich berichtete der Geschichtslehrer aber auch – jenseits des Lehrplans – über die Ereignisse des Tian’anmen-Massakers von 1989 in Beijing, das damals auch noch in der Familie für Diskussionsstoff sorgte.
In der zweiten thematischen Runde stand die komplexe Identitätslage der Hongkonger Bevölkerung zwischen britischer Kolonialerfahrung und chinesischer Zugehörigkeit im Fokus, wobei auch unterschiedliche Positionen zwischen den Generationen angesprochen wurden. Neben der „Ein-China-Idee“ sprach hier Chiu Kit Lam über die Erfahrung der kulturellen und politischen „mainlandisation“ seiner Heimatstadt, die etwa durch die gezielte Ansiedelung von Festlandchinesen und die Priorisierung des Mandarin gegenüber dem Kantonesischen vorangetrieben wurde, um die allmähliche Aushöhlung des Verfassungskompromisses des „einen Landes“ mit „zwei Systemen“ herbeizuführen. Umgekehrt stärkte gerade diese Erfahrung der „Festlandisierung“ aber auch das Eigenbewusstsein der Hongkonger: „Wir haben nach dem Handover gemerkt, dass wir eine eigene Identität haben!“
Weiterhin ging es in der dritten Gesprächsrunde um die interkulturelle Expertise des Gesprächspartners vor dem Hintergrund seiner persönlichen Migrationserfahrung in Deutschland, womit sich interessante Aufschlüsse zur Ost-West-Begegnung ergaben. Die Reflexion über die erste Berührung mit der fremden Lebenswelt in Deutschland brachte überraschende Feststellungen zur deutschen Eigenart hervor – neben der bisweilen unfreundlich wirkenden Direktheit und der in Planungsobsession umschlagenden „Angst vor Risiko“ fiel Chiu Kit Lam auch die deutlich stressfreiere und gemächlichere Arbeitskultur in Deutschland auf („Eine 40-Stunden-Woche ist in Hongkong Luxus!“). Die Begegnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seiner neuen Wahlheimat öffnete aber auch den Blick für das in Hongkong vorherrschende historische Desinteresse: „In Hongkong haben wir eigentlich wenig Erfahrung mit unserer Geschichte gesammelt oder uns kaum damit beschäftigt, weshalb es für mich unvorstellbar war, wie wichtig das in Deutschland ist.“
Im abschließenden Ausblick diskutierten beide Gesprächspartner das Schicksal Hongkongs (und Taiwans) in naher Zukunft. Chiu Kit Lam äußerte zwar die Hoffnung, dass die Volksrepublik China ihre gegenwärtige aggressive Politik nicht lange wird aufrechterhalten können; zugleich beschwor er aber auch die Gefahren für seine ostasiatische Heimatstadt: „Hongkong, einst die freieste Stadt Asiens, stirbt!“ Ein solches tragisches Schicksal noch abzuwenden, haben sich hierzulande die Vereine „Hongkonger in Deutschland“ und „Freiheit für Hongkong“ auf die Fahne geschrieben – wer also an der Demokratiebewegung Hongkongs interessiert ist, möge diese Vereine (siehe unten) mit seiner oder ihrer Expertise logistisch, anwaltlich und auch finanziell im jeweils gegebenen Rahmen unterstützen: „Wir brauchen Verstärkung!“
Chiu Kit Lam, B.Eng., geb. 1990 in Hongkong, studierte 2009/10 zunächst Mechanical and Automation Engineering an der Chinese University of Hong Kong, dann 2010 Übersiedelung nach Deutschland; im Anschluss an den Bachelorabschluss in Automatisierungstechnik an der Hochschule Mannheim (2014) bis 2020 berufliche Tätigkeiten als Ingenieur bei verschiedenen Unternehmen; seit 2020 Deutschlehrer und Geschäftsführer der Aquilam GmbH in Offenburg, seit 2022 Mitglied im Vorstand des Vereins „Freiheit für Hongkong“, Berlin.
Weiterführende Ressourcen:
- Freiheit für Honkong e.V., Berlin
- Hongkonger in Deutschland e.V., Offenburg
- Nathan Law/Evan Fowler, Freedom: How we lose it and how we fight back, London 2024.
- Glory to Hong Kong
[Hymne der Protestbewegung in deutscher Übersetzung von Chiu Kit Lam, in Hongkong nicht mehr online aufrufbar] - Prof. Dr. Bert Becker: Ein Land – zwei Systeme? Hongkong als Symbol von Konflikt und Begegnung in Ostasien in kolonialer Vergangenheit und globaler Gegenwart
[Gespräche am Tor, 06.07.2022]
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