Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Ein Land – zwei Systeme?
Hongkong als Symbol von Konflikt und Begegnung in Ostasien in kolonialer Vergangenheit und globaler Gegenwart
06. Juli 2022, 18 Uhr
Prof. Dr. Bert Becker
Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)
„Die Deutschen sind früh da […] und partizipieren am britischen Kolonialismus“ – zur historischen Funktion Hongkongs und ihrer heutigen Brisanz
Als am 1. Juli 1997 die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong zurück an China fiel, geschah dies unter einem Verfassungskompromiss, der auch im Grundgesetz (Basic Law) Hongkongs verankert wurde und unter der Losung „Ein Land, zwei Systeme“ die liberale politische Kultur der Hafenmetropole für fünf Jahrzehnte sichern sollte. Der 25. Jahrestag dieses „Handover“ bildete den Anlass für eine Halbzeitbilanz im bis 2047 veranschlagten Verfassungskompromiss: Dazu hatten die Karlsruher „Gespräche am Tor“ in Kooperation mit dem Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften zu einer Hybridveranstaltung auf dem Campus Karlsruhe der Fernuniversität geladen.
Das online zugeschaltete und in Karlsruher Präsenz versammelte Publikum erlebte einen beeindruckenden Vortrag Prof. Dr. Bert Beckers (The Hong Kong University), der seit 20 Jahren in Hongkong lebt und arbeitet, somit bei seinen Ausführungen aus seiner beruflichen und persönlichen Biografie schöpfen konnte. In einem ersten Teil berichtete Bert Becker über die historische Bedeutung der ostasiatischen Hafenmetropole für Deutschland, wobei gemäß seiner Forschungsexpertise die unternehmens- und wirtschaftsgeschichtliche Perspektive im Fokus stand. Hier erläuterte er auch ausführlich die kolonialen Ursprünge jenes „Felsen im Meer“, den die britischen Kolonialherren ab 1841 zum militärischen und wirtschaftlichen Stützpunkt ausbauten. In der Folge profitierten die deutschen Unternehmer maßgeblich von den sog. „Ungleichen Verträgen“, mit denen die westlichen Sieger der Opiumkriege das Reich der Mitte zur Öffnung seiner Häfen zwangen. In diesem Zusammenhang identifizierte Becker auf Seiten der im Vortrag aufgeführten deutschen Unternehmen einen „partizipativen Kolonialismus“, mit dem die deutsche Wirtschaft den britischen Imperialismus unterstützte und zur Stabilisierung des Informal Empire in Südchina beitrug. Das deutliche Nachwirken dieser britischen Kolonialordnung, d.h. der sog. Hong Kong Charter von 1843, noch im heutigen politischen System Hongkongs veranlasste den Referenten zu der überraschenden Feststellung, dass dieses Modell eines executive-led government mit der Verfassungsordnung des deutschen Kaiserreichs von 1871 vergleichbar sei – wodurch ein deutlicher verfassungsgeschichtlicher Kontrast zur wirtschaftlichen Modernität der Metropole aufscheint.
Dieser Gegensatz hatte sicherlich in jüngster Zeit einen maßgeblichen Anteil bei der Ausbildung einer eigenständigen Identität Hongkongs, deren historische Rekonstruktion und aktuelle Analyse der Referent im zweiten Teil seines Vortrags unternahm, um diese dann mit der Schilderung der jüngsten Protest- und Repressionserfahrungen zu verknüpfen. Hier stand zunächst die Entwicklung der Stadt im Schatten der 1949 gegründeten Volksrepublik China im Mittelpunkt, als sich von den 1950er bis in die 1980er Jahre hinein – gefördert von sozialpolitischen Initiativen der britischen Herrschaft und der vom Kalten Krieg verursachten Randlage als „Westberlin Asiens“ – erstmals eine besondere Hongkong-Identität herausbildete. Unter dem Druck der chinesischen Wiedervereinigungsstrategie Deng Xiaopings, die neben Hongkong auch Taiwan und Macao in den Blick nahm, bereitete Großbritannien in den 1980er Jahren die Rückgabe Hongkongs an China vor, nicht ohne vorher noch unter dem letzten Gouverneur Christopher Patten eine deutliche Liberalisierung des politischen Systems herbeizuführen. In Gestalt eines besonderen Autonomiestatus als Selbstverwaltungszone innerhalb der VR China versuchte man seit 1997, die Funktionsfähigkeit des ursprünglich für Taiwan entwickelten Grundsatzes „Ein Land, zwei Systeme“ am Hongkonger Fall zu erproben, um dann einen solchen erfolgreichen „Heimfall“ auch für Taiwan attraktiv zu machen. Das im Basic Law von 1997 gegebene Versprechen einer sukzessiven Demokratisierung ist allerdings bis heute nicht eingelöst worden. Im Gegenteil hatten die seit 2014 von der Hongkonger, vornehmlich studentischen Jugend getragenen Protestbewegungen – deren unglückliches Abgleiten in die Gewaltspirale der Referent zum Teil aus eigener Erfahrung veranschaulichte und aufgrund der skrupellosen Polizeistrategie verständlich machte – einen verstärkten Einfluss der chinesischen Zentralregierung auf alle Lebensbereiche zur Folge. Trotz der restriktiven Handhabung des seit Mitte 2020 geltenden sog. „Nationalen Sicherheitsgesetzes“ schloss Bert Becker mit vorsichtig optimistischer Bilanz für die Zukunft Hongkongs: Im Anschluss an die gerade abgeschlossene sechste, frühe chinesische Phase in Hongkongs Geschichte (1997-2020) bieten sich der Hafenmetropole bis 2047 bei wachsender ökonomischer Stärke im Kontext der Greater Bay Area (Hongkong, Shenzhen, Guangzhou, Macao) und unter eingeschränkter, aber im Vergleich zu Festlandchina noch großer Freizügigkeit gute Aussichten für ein prosperierendes Lebensumfeld – vorausgesetzt die Lösung der Wohnungsnot und die Aussöhnung zwischen Politik und Gesellschaft gelingen.
Der äußerst anregende und lebendige Vortrag Bert Beckers profitierte erheblich von der persönlichen Forschungs-, Lehr- und Lebenserfahrung des Referenten in Hongkong, die immer wieder die Ausführungen untermauerten und ihnen eine besondere Authentizität verliehen. Dies gilt auch für die anschließende Diskussion mit dem Publikum, bei der die eingebrachte Hongkonger Position die Thematik maßgeblich bereicherte. So wurde etwa die verhaltene deutsche Reaktion auf die Unterdrückung der Hongkonger Demokratiebewegung kritisch hinterfragt; auch die Rolle der kolonialen Herrschaftstradition bei der heutigen Repression wurde in Hinblick auf den im britischen Polizeiapparat sozialisierten früheren Sicherheits- und heutigen Regierungschef John Lee vertieft. Schließlich war auch der Generationenkonflikt zwischen der älteren prochinesischen und der jüngeren antichinesischen Bevölkerung in Hongkong Diskussionsgegenstand. Im Ausklang der Veranstaltung herrschte Einigkeit über den universalen Charakter der Menschenrechte und deren Bedarf nach demokratischer Absicherung (wofür das nahe Taiwan und Südkorea als Beweis stehen) – entgegen der gerade in Hinblick auf China immer wieder ins Feld geführten „politischen Relativitätstheorie“, wonach es sich dabei angeblich um einen genuin westlichen, für die politische und gesellschaftliche Kultur Asiens ungeeigneten Wertekanon handele.
Bert Becker, geb. 1960, war nach dem Lehramtsstudium der Geschichte und Germanistik und der Promotion in Neuester Geschichte in Bochum zunächst von 1991 bis 2002 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, Rostock und Potsdam tätig. Nebenbei nahm er Lehraufträge in europäischer und ostasiatischer Geschichte in Berlin (FU), Rostock und Frankfurt/Oder wahr. 2004 habilitierte er sich in Neuerer Geschichte in Rostock. Von 2002 bis 2007 lehrte er als Fachlektor für Geschichte und Europa-Studien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der University of Hong Kong (HKU). Bis 2021 war er festangestellter (tenured) Assistant Professor bzw. Associate Professor am Department of History der HKU und lehrte dort deutsche und europäische Geschichte. Mit seinem Forschungsschwerpunkt im Bereich europäischer Unternehmensgeschichte in Ostasien war er mehrere Jahre lang auch als ehrenamtlicher Berater des Historischen Archivs und Geschichtsprojekts der Jebsen-Gruppe in Dänemark und Hongkong tätig.
Weiterführende Literaturhinweise:
- Bert Becker/Guido Eilenberger/Jürgen Rüland/Werner Draguhn (Hg.), Hongkong und China auf dem Weg in das Pazifische Jahrhundert, Hamburg 1998 [Band zur gleichnamigen Tagung].
- Bert Becker, France and Germany in the South China Sea, C. 1840-1930: Maritime Competition and Imperial Power, Cham 2021.
Zur Aufzeichnung des Vortrags (.mp4-Datei)
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