Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Genormtes Leben? –
Beruf als Leitlinie autobiographischer Erzählungen im 19. Jahrhundert
14. Juni 2023, 18 Uhr
PD Dr. Eva Ochs
Flyer zur Veranstaltung (PDF 1023 KB)
Die männlichen Lehr- und Wanderjahre im 19. Jahrhundert – Geschichte und Bedeutung einer strukturierten Lebenserzählung
Autographien bilden noch heute die Publikationsform mit historischem Bezug, die sich am besten verkauft – ungeachtet der besonderen quellenkritischen Herausforderung, die sie an ihre Leserschaft stellt. Die anhaltende Bedeutung dieses literarischen Genres bildete für PD Dr. Eva Ochs (Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität in Hagen) den Anlass für eine nähere Betrachtung seiner Entstehungsgeschichte.
Als vermeintlich lineare und erfolgreiche Lebenserzählung aus der Feder eines männlichen, dem Bürgertum entstammenden Verfassers kam die sog. „Norm-Autobiographie“ erst im ausgehenden 18. Jahrhunderts auf, um sich dann in den folgenden 100 Jahren rasant zu verbreiten und bis heute das Bild dieser Gattung (und damit auch die damit verbundene Erwartung der Leserschaft) zu bestimmen. Eva Ochs machte den Entstehungsprozess der Normautobiographie im Kontext der Industrialisierung sowie der damit verbundenen Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und Individualisierung verständlich – wobei diese Publikationsform innerhalb der bürgerlichen Elite wohlgemerkt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine bevorzugt männliche Ausdrucksweise blieb. Aus diesem Entstehungskontext heraus erklärte die Referentin mithilfe einer kenntnisreichen Bilanz des Forschungsstands die geschlechtsspezifischen Leitlinien, anhand derer sich das männliche Lebensnarrativ im Gegensatz zur späteren Frauenbiographie strukturierte: Im Zentrum der Norm-Autobiographie standen die Berufs- und Arbeitswelt sowie der berufliche Werdegang als erfolgreiche Persönlichkeitsentfaltung des männlichen Individuums im Sinne der Goethe'schen „Lehr- und Wanderjahre“.
Anhand beispielhafter Autobiographien aus dem deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts – des Augenarztes Arthur Brückner, geb. 1877; des Industriellen Werner v. Siemens, geb. 1816; des Bankiers Herrmann Wallich, geb. 1833 – arbeitete Eva Ochs dann die konkreten Erzählmuster heraus, die sich immer wieder in der narrativen Struktur jener Normautobiographie wiederfinden, um diese ganz auf den „Beruf als zentrale Erzählachse“ auszurichten. Die mehrheitlich vom beruflichen Erfolg gekrönte Normautobiographie wird gleichwohl durch einige Erfahrungsberichte konterkariert, welche das Gebot der linearen und erfolgsorientierten Erzählung durchbrechen oder gar das eigene Scheitern thematisieren. Zum Schluss identifizierte die Referentin am Beispiel dreier Fallbeispiele – des Verwaltungsjuristen und Beamten Rudolf von Delbrück, geb. 1817; des Pfarrers Friedrich Wilhelm Plathe, geb. 1859; des Bankiers Paul Wallich, geb. 1882 – einige grundlegenden Typen des besprochenen Genres. Neben der klassischen Erfolgserzählung Delbrücks und der typischen Aufsteigerbiographie Plathes boten die von Wallich junior vorgelegten „Lehr- und Wanderjahre eines Bankiers“ (1926) eine selbstironische Konversionsgeschichte des seiner Herkunft und elterlichen Fürsprache sowie der eigenen Anstrengung geschuldeten beruflichen Erfolgs, die nicht nur die Eliterekrutierung im Kaiserreich karikierte, sondern auch mit den narrativen Leitlinien der bürgerlichen Normautobiographie spielte, ohne mit diesem Genre ganz zu brechen.
Der anschließende Austausch mit dem online zugeschalteten und in Präsenz versammelten Publikum kreiste zunächst um die Frage der unterschiedlichen Qualität und des archivalischen Zugangs von Ego-Dokumenten (Autobiographien, Tagebücher u.a.). Neben weiteren Themen wurde auch die unterschiedliche Qualität von Autobiographien aus dem adeligen Milieu und aus weiblicher Feder vertieft. Die bereits im Vortrag angesprochene Frage, inwieweit außereuropäische Gesellschaften vergleichbare Formate der Lebenserzählung entwickelten, verweist indes auf die künftige Forschung und möglicherweise eine weitere Veranstaltung.
Eva Ochs, geb. 1963, ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Biographie an der FernUniversität in Hagen. Ein Schwerpunkt ihrer Forschungen liegt in lebensgeschichtlichen Zugängen zur Geschichte. In ihrem gerade publizierten Forschungsprojekt steht die „work-life-balance“ von Männern des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt.
Weitere Ressourcen:
- Eva Ochs, Beruf als Berufung? Die Work-Life-Balance bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert, St. Ingbert 2020.
- Eva Ochs, Biographieforschung und Zeitzeugenschaft (Oral History). Lebensgeschichtliche Erzählungen und biographische Brüche, in: Handbuch Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und Biographiearbeit, hg. von Dieter Nittel u.a., Frankfurt/Main 2022, S. 723-735.
- Friedrich-Wilhelm Geiersbach/Eva Ochs, „Wo käme denn die Bildung her, und wenn sie nicht vom Bürger wär‘“. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, FernUniversität in Hagen 2014 (Film).
- Dr. Eva Ochs/Dr. Friedrich-Wilhelm Geiersbach, Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Eine filmische Zeitreise (Gespräche am Tor, 17.02.2016)
- Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Institut für Geschichte und Biographie, Hagen
- Deutsches Tagebucharchiv, Emmendingen
- Tagebuch- und Erinnerungsarchiv, Berlin
- Liebesbriefarchiv, Koblenz
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