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Workshop-Bericht: Staatliche Gewalt, Digitale Plattformen & Praktiken des Löschens
[13.06.2024]Der Workshop „Autobiography, Digitality & Platformisation“ brachte am 31. Mai 2024 im Berlin Campus der FernUniversität in Hagen Soziolog:innen, Historiker:innen sowie Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen zusammen, die die Digitalisierung des Erzählens erforschen.
Hanna Horn (Greifswald) verdeutlichte in ihrem Vortrag exemplarisch anhand der digitalen Tagebücher der belarusischen Poetin Tatsiana Zamirovskaya, wie die Logik digitaler Plattformen die Narration der Künstlerin verändert. Zamirovskaya betreibt auf LifeJounal, einer russischsprachigen Plattform aus dem ersten Jahrzehnt des Internets, weiterhin ein Tagebuch mit langen Einträgen. Das ist bemerkenswert, weil der Lebenszyklus von ZhZh, wie die Website auf Russisch liebevoll genannt wird, bereits zu einem Ende gekommen ist und die Seite nur wenige Besucher:innen verzeichnet. Um so größer ist die Reichweite Zamirovskayas Facebook-Einträge, in denen sie ihr Verhältnis zur Republik Belarus reflektiert. Denn in Belarus fand 2020 eine unvollendete Revolution statt, die in einer bis heute anhaltenden Orgie der Gewalt erstickt wurde. Horn zeigte, wie Zamirovskaya das Löschen von Beiträgen – sie nennt das auf Englisch „Rapture and Erasure“ – sowie das Einschränken ihrer Sichtbarkeit als zentralen Teil ihres Erzählens verwendet. Damit reagiert die Autorin auf das Risiko für in Belarus verbliebene Leser:innen und Wegbegleiter:innen. Iris Bauer (Leipzig) setzte das laute Nachdenken über eine Philologie digitaler Erzählmodi fort, indem sie die Ausbeutung von Haustieren als Ich-Erzähler auf digitalen Plattformen zum Thema eines konzeptionellen Vortrags mit einem theoretischen Schwerpunkt auf der Agency von (Haus)Tieren machte. In Bezug auf Gayatri Chakravorty Spivak betrachtete Bauer diese als spezifischen Typ des Subalternen , welcher ohne Stimme und Repräsentation der eigenen Handlungsfähigkeit bleibt. Empirisch bezog sich Bauer auf eigens für Tiererzählungen geschaffene Plattformen sowie prominente Haustiere, deren Bilder von ihren Besitzern genutzt werden, um ihre eigene Geschichte aus Perspektive von Katzen und Hunden zu erzählen. Dabei verwies Bauer auf neue Möglichkeiten, die Sinnlichkeit, Geräusche und Bewegung von Tieren in das Erzählen digitaler Fiktionen mithilfe von Videos und Ton einzubeziehen. Sie plädierte für eine Verbindung einer Analyse der so entstehenden Narrationen mit einer systematischen Kritik am Verhältnis von Halter:innen vis à vis den Haustieren. In der Diskussion wurde offenbar, dass Bauers Ansatz einen Bogen in die Gegenwart geflüchteter Ukrainer:innen schlägt, für die die Mitnahme ihrer Haustiere ein wichtiger emotionaler Vorgang war, der prägend für die größte Fluchtbewegung in Europa nach 1945 ist. Auch an den digitalen Propaganda-Fronten des fortlaufenden russischen Angriffskriegs sind Tiere Kristallisationspunkte des Erzählens über Verlust und Widerstand.
In einem Panel über kooperative Forschungsmethoden stellten Taras Nazaruk (Hagen/Lviv) und Johanna Hiebl (Frankfurt/Oder) ihre laufenden Promotionsprojekte vor, die sich mit der Messenger-Plattform Telegram beschäftigen. Die von beiden formulierten theoretischen Prämissen zur Dynamik von Daten und ihrer Analyse durch nichtwissenschaftliche und nichtmilitärische Akteure lassen sich ohne Weiteres auf andere Plattformen übertragen. Hiebl erforscht mithilfe ethnographischer Methoden die Produktion und Zirkulation von Wissen, das im Rahmen von Open Source Information OSINF oder Open Source Intelligence OSINT im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine von Freiwilligen auf Grundlage von öffentlich zugänglichen Daten produziert wird. Ein wichtiger Teil der Diskussion warf Licht auf das methodische Dilemma des partizipativen Forschens, das eine Trennung von Feld und Forscher:in vorsieht, die Grenze zwischen beiden aber konstant überschreitet. Aus diesem resultiert auch die ethische Frage, wie Forschungsprojekte zu Spuren digitaler Kommunikation so angelegt werden können, dass sie nicht allein einem extraktivischem Muster folgen. Taras Nazaruk präsentierte seinen Ansatz für eine kollaborative Erforschung von Telegram als Plattform vor. Dieser versteht die Erstellung von Archiven als sozialen Prozess, der sich in nicht institutionalisierten Formen für Forschungszwecke nutzen lässt. Dazu entwickelt er auf Grundlage des von ihm am Center for Urban History in Lviv betriebenen Telegram Archive of the War kollaborative Methoden der Archivierung von Telegram-Kanälen, die zeitnah Forschungszwecken zur Verfügung stehen sollen. Damit einher geht das Konzept eines Archivs, das nicht vom Staat zur dauerhaften Sicherung von Daten betrieben wird, sondern eines situativ agierenden fluiden Archivs. Diese neue Archivform nimmt aus der Ganzheit in der Gegenwart produzierter Bilder, Texte und anderer digitaler Artefakte eine kuratierte Auswahl vorund speichert diese. Dieses Konzept ist stark von der derzeitigen Kriegssituation geprägt, die alle in der Ukraine tätigen Akteure einschließt. Damit sind sie sowohl mit ihren Körpern als auch ihren digitalen Endgeräten Teil des zu archivierenden Feldes. Daraus resultierte die methodische Frage, wie eine zumindest temporäre Distanzierung von diesem möglich wird.
In einem Panel über die digitale Repräsentation der belarusischen Proteste des Jahres 2020 führte Ilya Sulzhytski (Innsbruck) eine Methode ein, mit deren Hilfe eine große Zahl von Videos auf Youtube auf Grundlage der öffentlich zugänglichen Metadaten sowie den mithilfe Künstlicher Intelligenz angefertigten Inhaltsquerschnitten analysiert werden können. In der Diskussion wurde deutlich, dass ein Teil der Kategorisierungen von Forscher:innen selbst angelegt wird und damit zentrale Deutungsdimensionen auch in der nachfolgenden Analyse Digitaler Artefakte wie Videos zum Tragen kommen. Olga Shparaga (Wien) dachte als Philosophin über die digitale Repräsentation einer 2021 durch die belarusischen Machthaber zerstörten analogen Milieus im Zentrum der Hauptstadt Minsk nach. Sie beleuchtete anhand der Gallerie Y, dass die von Google vorgesehenen Funktionen zur Bewertung von Dienstleistungsorten mit einem zeitlichen Abstand als nicht intendiertes Archiv funktioniert. Daraus resultiert die Idee, dass es möglich ist, die Geschichte von Nutzer:innen-Bewertungen als narrative Struktur zu analysieren, die nachträgliche Auskunft über das Leben gibt.
In einem abschließenden öffentlichen Round Table „Digital Authoritarianism, (Self) Censorship and Forms of De- Subjectivization” diskutierten Aliaksei Bratachkin (Hagen), Almira Ousmanova (Vilnius) und Antonina Stebur (Warszawa) Praktiken digitalen Vergessens und der Ent-Subjektivierung von Nutzer:innen. Sie brachten ihre eigenen Perspektiven als Historiker, Semiotikerin und Kuratorin in die gemeinsame Diskussion ein und verwiesen auf die starke Dynamik, die das digitale Feld nicht nur in Belarus in den vergangenen vier bis fünf Jahren durchlaufen hat. Nach einer Phase der starken Nutzung von digitalen Plattformen zur Entfaltung des eigenen Lebens, folgte eine Phase der aktiven Entfernung von Inhalten, die als digitale Praxis des Vergessens und gefasst werden kann. Aliaksei Bratachkin schlug vor, diesen in Belarus weit verbreiteten Rückzug aus digitalen Kommunikationszusammenhängen als Ent-Subjektivierung zu benennen. Das kritisierte Almira Ousmanova mit dem Verweis auf die weiterhin erfolgende Subjektivierung als Unterwerfung im Zuge kapitalistischer Wertschöpfungsketten. Die Diskussion lief am Ende auf die Frage zu, wie die digitale Repräsentation des sozialen Rückzugs aus halböffentlichen und öffentlichen Räumen empirisch und methodisch erforschen lässt. Das gesellschaftliche Schweigen stellt eine besondere Herausforderung für diejenigen dar, die heute aufgrund der staatlichen Repressionen außerhalb der Republik Belarus leben und deshalb bis auf Weiteres von den alltäglichen, analogen Geräuschen sozialer Kommunikation abgeschnitten sind.
Gemeinsam mit per Zoom zugeschalteten ukrainischen Kolleg:innen tauschten sich die Teilnehmer:innen während des Workshops über die Weiterentwicklung der Telegram Reading Group aus, die die Nachwuchsforschungsgruppe im vorbereitenden Jahr in einem Zweiwochen-Rhythmus verband, um wichtige Texte zur Theorie und Methodik der Erforschung digitaler Plattformen zu diskutieren. Diese Gruppe konstituiert sich als Digital War Reading Group ab Herbst 2024 neu, um im Monatsrhythmus einen breiteren Blick auf das Themenfeld zu werfen. Die Planung der Texte erfolgt kollaborativ durch die Mitglieder der Nachwuchsforschungsgruppe sowie weitere interessierte Forscher:innen. Ein geographischer Schwerpunkt wird weiterhin das östliche Europa in Zeiten des russischen Angriffskriegs sein.
Der Workshop brachte drei Prozesse aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln zusammen: die im östlichen Europa weitgehend abgeschlossene Etablierung digitaler Plattformen als Infrastrukturen sozialer Kommunikation und die Summe individueller Reaktionen auf die Gewalt, die in der Gegenwart von der Republik Belarus und der Russländischen Föderation ausgehen. Die analogen und digitalen Formen der Gewalt ist in beiden Staaten eng miteinander verwoben, sie verzahnen sich gegenseitig. Die Nutzer:innen digitaler Plattformen haben als Reaktion darauf neue Formen des individuellen Rückzugs gefunden, die sich als Praktiken digitalen Vergessens analysieren lassen.
Der Workshop war Auftakt der Hans Böckler Nachwuchsforschungsgruppe NFG026 zu “Digitalen Geschichten der Gewalt im 21. Jahrhundert“. Er wurde gemeinsam von Prof. Dr. Felix Ackermann, Prof. Dr. Yaraslava Ananka und Hanna Horn organisiert und vom Lehrgebiet Public History der FernUniversität in Hagen in Kooperation mit dem Institut für Slawische Philologie an der Universität Leipzig mit Mitteln der Hans Böckler Stiftung durchgeführt. Die belarusische Community Razam unterstützte die Durchführung des Round Tables.