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Der ukrainische Historiker: «Wir brauchen echte Friedensgarantien …»

[11.11.2024]

Am 24. und 25. Oktober fand in Berlin der Workshop "Charkiw unter Beschuss. Stadtgeschichte in Zeiten des Kriegs fortschreiben" statt.

Die Stadt Charkiw liegt etwa 26 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Sie ist eine der größten und wichtigsten ukrainischen Städte. Seit Beginn des Krieges steht sie unter russischem Bombenbeschuss.

Wir möchten Sie auf ein Interview mit einem der Konferenzteilnehmer hinweisen. Vorbereiten einer deutschen Übersetzung eines Interviews - Gundula Pоhl.


Yevhen ZakharchenkoFoto: FernUniversität

Yevhen Zakharchenko, Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der Ukraine an der Fakultät für Geschichte der Nationalen Universität Charkiw V. N. Karazin, Kandidat der Geschichtswissenschaften

- Welches sind die wichtigsten Themen für Forscher:innen, die die Auswirkungen des russischen Krieges in der Ukraine auf die städtische Infrastruktur erörtern?

- Soweit ich dieses Thema in der Ukraine von innen heraus vertrete, geht es um die Möglichkeit der Wiederherstellung des städtischen Raums, seines physischen Zustands. Die Infrastruktur, das Netz der Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen wurde beschädigt. Einerseits ist es logisch, dass die Mittel so weit wie möglich für die Verteidigung und die Stärkung der ukrainischen Streitkräfte ausgegeben werden sollten, aber die groß angelegte Invasion dauert nun schon mehr als 2,5 Jahre an. Lohnt es sich beispielsweise, in den Bau von unterirdischen Schulen in Charkiw zu investieren, in die Entwicklung von Bildungseinrichtungen auf der Grundlage der U-Bahn - „Metro-Schulen“? Es liegt auf der Hand, dass ein pragmatisches Gleichgewicht gewahrt werden muss, aber in Charkiw gibt es viele Familien mit Kindern, für die dies fast die einzige Möglichkeit ist, Bildung zumindest teilweise offline zu erhalten.

Die globale Frage: Wo ist die Grenze zwischen „es ist nicht zeitgemäß“ und „wir brauchen es wirklich, trotz des Krieges“? Wie können wir unser eigenes kulturelles Gesicht in diesem Krieg nicht verlieren? Wie kann man die moderne junge Generation von Ukrainer:innen, die die Ukraine verlassen haben oder während des Alarms in Unterkünften leben müssen, nicht verlieren?

Andererseits, wie soll das Gesicht der Stadt nach dem Wiederaufbau aussehen? Soll sie wie 2022 wiederaufgebaut werden? Wie 2014? Soll sie ihr historisches Gesicht zurückerhalten? Welches soll es dann sein? Und hier stellt sich die große historische Frage - ist es die Frage der Entkolonialisierung - oder vielmehr der Entkernung der Stadträume von den Markierungen des imperialen - russischen - sowjetischen Erbes? Dies ist eine der am meisten diskutierten Fragen, zu der es fast keine oder zu wenige kritische Veröffentlichungen gibt.

Diese Frage beinhaltet mehrere Aspekte:

Erstens. In der europäischen und amerikanischen Geschichtsschreibung ist der Begriff „sowjetische“ sehr oft zum Synonym für den Begriff „russisch“ geworden, aber gibt es so viel Russisches in diesem Sowjetischen? Auf Kosten welcher intellektuellen, materiellen und kulturellen Kräfte wurde die Sowjetunion genau aufgebaut? Wie lässt sich der Beitrag der in der UdSSR lebenden Völker in den verschiedenen Republiken und der Beitrag der Wirtschaft dieser Republiken, einschließlich der Ukrainischen SSR, die nach der Russischen SSR die zweitgrößte war, angemessen bewerten? Diese Frage ist sowohl für die heutige ukrainische Gesellschaft selbst problematisch, die das sowjetische Erbe nicht mehr blindlings ablehnen darf, als auch für die europäische Gesellschaft, die die UdSSR nicht als Sowjetrussland, sondern als ungleiche Föderation von Sowjetrepubliken sehen muss. Die Vielfalt des Sowjetischen und die Komplexität und die Grenzen der Entwicklung von etwas „Nationalem“ in diesem „Sowjetischen“ zu sehen.

Zweitens. Können die ukrainischen Gebiete im 18. bis 20. Jahrhundert langfristig als Kolonien betrachtet werden? Oder war die Ukraine Teil des „Herzens des Reiches“, ohne das der „Imperialismus“ des Russlands der Romanow-Ära nicht möglich ist? Der Zugang zur Schwarzmeerküste, die Kontrolle über die Häfen, der Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Nutzung der natürlichen Umwelt, der Bodenschätze, der Wälder, der Flüsse - all dies strebte das Russische Reich auf die eine oder andere Weise an, indem es seine östlichen und südlichen Grenzen nach und nach verschob, das Osmanische Reich zurückdrängte, das Krim-Khanat eroberte und sich an den Teilungen der Polnisch-Litauischen Commonwealth beteiligte. Haben die Bolschewiki in den Jahren 1917 bis 1921 auf dieselbe Weise gehandelt und versucht, die nationalen Staatsprojekte der Ukraine, Belarus‘, Polens und der baltischen Staaten nach und nach zu zerstören? Brauchen wir eine neue postkoloniale Optik und Methodik, um zu versuchen, das Wesen solcher Großereignisse in Osteuropa auf neue Weise zu verstehen? Wie können diese Optik und dieser terminologische Apparat aussehen?

Drittens. Was ist mit dem imperialen und sowjetischen Erbe zu tun, wie kann man es aufarbeiten. Schließlich gibt es Städte, die ihr Gesicht und ihre Infrastruktur unter dem Einfluss oder der direkten Intervention entweder des Romanow-Reiches oder der UdSSR geformt haben (Odessa, Charkiw, Dnipro, Saporoshje, Donezk, Kriwoj Rog). Wie sollten wir bei der Wiederherstellung dieser Städte mit der Erinnerung an diese Epochen umgehen und wie sollten wir angesichts der Komplexität und traumatischen Geschichte dieser Länder die Gedenkgeschichte der modernen unabhängigen Ukraine gestalten?

- Kann die akademische Gemeinschaft in Deutschland und der Ukraine heute Einfluss auf die Situation des russischen Krieges in der Ukraine nehmen, ist ein Handeln innerhalb des Berufs möglich?

- Meiner Meinung nach hat die akademische Gemeinschaft in Deutschland ein enormes Ansehen in der Welt. Sie kann einen Beitrag zur Kulturdiplomatie und zum Schutz der historischen nationalen Kulturdenkmäler in der Ukraine leisten, die durch die Feindseligkeiten, Raketenangriffe und Bombardierungen zerstört werden. Der deutsche Humanismus verfügt über eine große Erfahrung im Umgang mit der Erfahrung des Nationalsozialismus und den Folgen des Zweiten Weltkriegs in der Erinnerungspolitik. Deshalb können der Slogan „Nie wieder!“, die kategorische Verurteilung des Vorgehens der Streitkräfte der Russischen Föderation und des menschenfeindlichen Regimes sowie die Ächtung der russischen Wissenschaft eine starke Stimme in der politischen Weltgemeinschaft sein.

Gleichzeitig haben die deutsche akademische Gemeinschaft und das Netzwerk der Institute bereits viel getan, um ukrainische Wissenschaftler:innen mit befristeten Stellen, Stipendien und Forschungszuschüssen zu unterstützen. Der Regierung, den Stiftungen und den Instituten, die sich daran beteiligt haben, ist dafür sicherlich gesondert zu danken. Für die ukrainischen Wissenschaftler:innen ist es wichtig, dass ihre Stimmen nicht im „Schatten der Wissenschaftsflucht“ und der Abhängigkeit von deutschen Fördermitteln untergehen. Die deutsche akademische Gemeinschaft kann sich weiterentwickeln, indem sie den Fokus des Studiums Osteuropas und des Russischen Reiches/der UdSSR auf das Studium der nationalen und kulturellen Vielfalt dieser Region ausweitet, was gleichzeitig neue Orte für die wissenschaftliche Diskussion und neue Interpretationen für das Überdenken der Vergangenheit einer ganzen Region schafft und - den ukrainischen Forscher:innen, den ukrainischen Einwohner:innen und Regionen, die vor hundert, zweihundert und dreihundert Jahren in diesen Gebieten existierten, aber keine volle Stimme und Aufmerksamkeit hatten, eine Stimme geben.

- Können wir heute über die Versuche sprechen, die städtische Infrastruktur in der Ukraine während des Krieges wiederaufzubauen?

- Wie ich eingangs erwähnte, findet der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur bereits jetzt statt, wie zum Beispiel das Projekt der „Untergrundschule“ oder „Metroschule“ in Charkiw. Es geht nur darum, ein Gleichgewicht zu finden und die notwendigsten Ziele für den Wiederaufbau zu bestimmen. Wenn der Wiederaufbauprozess bedingt in zwei Ebenen unterteilt werden kann - in eine strategische und eine taktische -, dann können wir im Moment natürlich nur von einer taktischen, situativen Wiederherstellung der äußerst notwendigen kritischen Infrastrukturen sprechen: Schulen, medizinische Zentren, Wärme- und Lichterzeugungsanlagen, elektrische Umspannwerke, provisorische mobile Notunterkünfte. Diese Arbeiten sind im Gange. Große Unternehmen gehen Risiken ein, indem sie Handels- und Freizeitinfrastrukturen wiederherstellen, Einkaufszentren und große Märkte werden wiederaufgebaut und vieles mehr. Einige Einrichtungen, die im Jahr 2022 direkt von Raketen getroffen wurden, sind inzwischen wiederhergestellt und versuchen zu arbeiten.

Die Wiederherstellung einzelner Objekte sowohl von Seiten der Behörden als auch von Seiten der Wirtschaft - all dies hat eine symbolische, sakrale Bedeutung für die Ukrainer:innen, die Ukrainer:innen - die kämpfen - die wiederherstellen - die versuchen zu überleben. Aber jede unserer Aktionen kann augenblicklich durch den Abwurf einer KAB (gelenkten Fliegerbombe) oder einer Rakete aus der Russischen Föderation unterbrochen werden. Können wir über den Versuch sprechen, die Infrastruktur der Stadt wieder aufzubauen - ja, haben wir Garantien, dass sie nicht wieder zerstört wird und Menschen mit ihr sterben - nein. Wir brauchen echte Friedensgarantien, wir brauchen eine verlässliche Verteidigung und einen Zünder gegen unseren Aggressor.

Fotos der Agentur Associated Press, UNIAN.

Charkiw1Foto: Associated Press, UNIAN
Charkiw2Foto: Associated Press, UNIAN