Aktuelles

Dekolonisierung innerhalb von Europa?

[06.06.2023]

Dekolonisierung innerhalb von Europa?

Am 22. und 23. Mai 2023 fand in Berlin das 10. Europäische Geschichtsforum der Heinrich Böll Stiftung statt. Das Thema "Decolonize! Historiography of and in Eastern and Southeastern Europe in a Paradigm Shift“ wurde am ersten Tag aus unterschiedlichen Perspektiven erschlossen. Aliaksei Bratachkin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet Public History am Historischen Institut der FernUniversität in Hagen, sprach über die belarussische Perspektive und wies auf das problematische Verhältnis zwischen den gleichzeitig stattfindenden Prozessen Digitalisierung und Dekolonisierung hin. Er unterstrich, dass Digitalisierungsprozesse nicht frei von etablierten kolonialen Hierarchien seien. Auch der autoritäre Kontext habe einen Einfluss auf Dekolonisierungsprozesse. Im Fall von Belarus beobachten wir heute eine „sekundäre Kolonisierung“ durch die Russländische Föderation unter Zustimmung des autoritären Regimes in der Republik Belarus, die sich auf die Digitalisierung eher negativ auswirkt.

Am folgenden Tag diskutierten die Teilnehmer:innen, wie die Rhetorik der Dekolonisierung und antiwestliche Argumente heute von autoritären Regimen genutzt werden. Um das Problem der Dekolonisierung von Erinnerungspolitik zu umreißen, analysierten sie die Überschneidung von Dekolonisierungsprozessen und einem stärkeren Fokus auf Gender-Fragen und erörterten den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Dekolonisierung.

Eine Triebfeder der Dekolonisierung ist heute der Russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im Mittelpunkt des Geschichtsforums stand dabei die Verbindung zwischen historischer und politischer Verantwortung. Dabei wurde kontrovers diskutiert, dass bis heute die Produktion von Wissen über die Ukraine und andere osteuropäische Länder eine koloniale Struktur aufweist. Darüber hinaus fehlen direkte Kommunikationskanäle zwischen den intellektuellen Zentren in verschiedenen Ländern. Oft findet diese Kommunikation mittelbar über die ehemaligen imperialen Zentren des Wissenstransfers statt. Diese Struktur des Austauschs und der Reproduktion von wissenschaftlichem Wissen sollte in Zukunft geändert werden. Dabei wird die Qualität der Forschung im östlichen Europa und Russland auch von der Frage des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen geprägt. So ist es derzeit z.B. in Russland nicht mehr möglich, Quellen zu verwenden, in denen das Schicksal von innerhalb des Russischen Reichs kolonisierten Gruppen thematisiert wird.

Information über das Europäische Geschichtsforum: https://www.boell.de/de/europaeisches-geschichtsforum

Informationen über Aliaksei Bratachkin: https://www.fernuni-hagen.de/geschichte/lg4/team/

Foto: © Böll Stiftung, Autorin: Arinda Craciun