Promotionsprojekt

Waffner, Petra: Der Livre de Sidrac: die Quelle allen Wissens: Aspekte zur Tradition und Rezeption eines altfranzösischen Textes, Milano 2019 (Dies Nova. 5).

Projektleitung:
Prof. Dr. Felicitas Schmieder
Mitarbeitende:
Petra Waffner
Status:
abgeschlossen
Laufzeit:
Oktober 2009 - März 2018

Das Promotionsprojekt stellt eine vermutlich um das Jahr 1260 auf altfranzösich geschriebene Quelle, den Livre de Sidrac – la fontaine de toutes sciences („Die Quelle allen Wissens“) und hier genauer seine eschatologisch-prophetischen Teile in den Mittelpunkt der Untersuchung. In diesen Passagen werden die Geschichte der Kreuzzüge, des wiederholten Verlustes Jerusalems und damit einhergehend die Rolle der Sarazenen und der später auftretenden Mongolen thematisiert. Die historischen Ereignisse werden in heilsgeschichtlichem Rahmen zwischen der Erschaffung der Welt und ihrem Ende gedeutet, werden als Vorboten der nahen Endzeit interpretiert. Dabei sind die Informationen in diesen Teilen – wie häufig in prophetischen Texten – verschlüsselt wiedergegeben. Nur das eingeweihte Publikum versteht die Sprache des Propheten und erkennt damit die Handlungsanweisung des Verfassers an sein Publikum aktiv im Sinne der Geschehnisse zu handeln.

Zudem stellt der Livre de Sidrac insofern einen Sonderfall dar, als er seine prophetischen Teile in ein als enzyklopädisches Werk bezeichnetes Gesamtkonstrukt einbettet. Das Werk gibt sich den Anspruch das gesamte Wissen seiner Zeit aufzuzeichnen, geordnet gemäß den Bedürfnissen des „enzyklopädischen Zeitalters“ des 13. Jahrhunderts in durchnummerierten Fragen. Dazu gibt sich der Sidrac eine fiktive Rahmengeschichte. Es geht dabei um die Bekehrung eines heidnischen Königs zum rechten Glauben, der durch die Vermittlung des Wissens in einem Lehrdialog nun als weiser und auch bekehrter Herrscher gelten darf. Der König erfährt dabei alles Wichtige über Themenbereiche wie ethisches Verhalten, Medizin, Astronomie, Glaubensinhalte usf. Für die Prophetie ist davon auszugehen, dass der anonyme Autor des 13. Jahrhunderts diese Passagen als wissenschaftlich gleichberechtigt zu den anderen Thematiken des Sidrac stellt: Eine Vorstellung, die unserer Zeit wiederum fremd erscheint. Für den Sidrac gehört damit die von Gott gegebene Prophetie zur Welterklärung oder auch zur nachweisbaren Wahrheit.

Bei alledem bewegt sich der Livre de Sidrac in seiner Deutung der Kreuzzüge im regionalen Bereich der damaligen Christianitas. Er spricht von Gegenden und Völkern, die dem westeuropäischen „lateinischem“ Publikum zwar aus vor allem poetischen Werken der Kreuzzugsverarbeitung zum Teil vertraut, aber meist physisch fremd waren. Weit weg vom Geschehen des Kampfes um die Heiligen Stätten wurden so dem Publikum Erklärungsmöglichkeiten seiner Zeit angeboten. So bewegt sich der Sidrac im Bereich des Kulturkontaktes, wenn er für sein Publikum die Grenze vom Bekannten in das Unbekannte überschreitet. Der anonyme Autor zeigt dabei eine genaue Kenntnis der fernen Region, was vermuten lässt, dass der Text ursprünglich aus dieser Gegend stammt und später – vermutlich um dieses Wissen zu verbreiten und die Einschätzungen der östlichen Christenheit im Westen publik zu machen – nach Frankreich gelangte.

Diese für das Promotionsvorhaben relevanten eschatologischen Prophezeiungen fanden zudem bislang keine nennenswerte Beachtung in der Forschung. Sie wurden als ein Teil des enzyklopädischen Volumens gesehen, welches zudem offensichtlich in großen Teilen aus anderen – der Zeit des 13. Jahrhunderts bereits bekannten - Werken kopierte.

Der hier verfolgte Ansatz geht dabei davon aus, dass es hingegen genau diese prophetischen Abschnitte des Textes sind, die die Besonderheit des Livre darstellen.

Im Laufe der bereits absolvierten umfangreichen eigenen Recherchen zum Sidrac stellte sich unter näherer Untersuchung verschiedener Übernahmen von Teilen des Textes in Sammelhandschriften die Frage, was der Sidrac originär sei. wenn doch der unbekannte Autor fremde Werke übernahm.

Es wird daher davon ausgegangen, dass es den Sidrac nicht gab. Um diese These zu verstärken will die Arbeit sich weiterhin vorwiegend mit den Sammelcodizes beschäftigen, die den Text nur in Teilen aufnahmen. Es ist dabei zu fragen, was die Autoren unter dem Sidrac verstanden und wie sie dieses Verständnis mit anderen Werken kombinierten, und nicht welche Teile des Sidrac von den Kompilatoren genutzt worden Dabei ist vor allem der Horizont des Schreibanlasses in den Vordergrund zu stellen. Zu was wird der Sidrac, wenn er beispielsweise mit weiteren prophetischen Texten kombiniert wurde? Ist erkennbar zu welchem Zweck diese Zusammenstellung erfolgte und aus welchem jeweiligen eigenen zeitlichen und regionalen Bezug heraus die gewählte Auswahl von Schriften erfolgte?

Die notwendige Untersuchung verschiedener Beispiele von Sammelcodizes sollte dazu führen, eine bislang in der Forschung unbekannte Sicht auf den Livre de Sidrac zu ermöglichen: kein in sich kohärenter Text, sondern eine Quelle an Möglichkeiten für dessen zeitgenössische Nutzer. Diese neuen Ansätze können damit Grundlage für weitere wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Erforschung der mittelalterlichen Prophetie bieten. Dies insbesondere, da der Livre de Sidrac als Verbindungsglied zwischen der christlich östlichen und westlichen Welt seiner Zeit gesehen wird.