Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Europas Verfassung in historischer Perspektive -
die Ergebnisse eines Handbuch- und Editionsprojekts zur vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert
16. Juni 2021, 18 Uhr
Prof. i.R. Dr. Peter Brandt und Dr. Werner Daum
Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)
Ein spezifisch europäisches Verständnis von politischer Ordnung und Verfassung – die verfassungsgeschichtlichen Grundlagen Europas in den „Gesprächen am Tor“
Die Widersprüche und Rückschläge im europäischen Verfassungsgeschehen der vergangenen beiden Jahrzehnte verweisen auf einen immer wieder aufflammenden grundlegenden Konflikt zwischen nationalem und europäischem Bezugsrahmen. Diesen zuletzt auch in der Pandemie sichtbar gewordenen Gegensatz zwischen Einzelstaaten und EU nahm die Veranstaltung zum Anlass für eine grundlegende Erörterung der gemeinsamen verfassungspolitischen Grundlagen Europas: Gibt es überhaupt eine spezifisch europäische Verfassungsstaatlichkeit? Inwiefern wurzeln die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse der europäischen Nationalstaaten in einem gemeinsamen, diesen Kontinent kennzeichnenden Verfassungsverständnis?
Die beiden Referenten behandelten diese Fragestellung in einer historischen Perspektive, wobei sie sich auf die Zwischenergebnisse eines von ihnen an der FernUniversität in Hagen betriebenen Projekts stützten. Nach einer kurzen Vorstellung des Projekts klärte zunächst Prof. i.R. Dr. Peter Brandt die konzeptionellen Grundannahmen zur Verfassung und Verfassungsstaatlichkeit im „langen 19. Jahrhundert“ (1789-1914), auf das die Veranstaltung den zeitlichen Fokus setzte. Dabei erläuterte er nicht nur den breiten Verfassungsbegriff, der für die Analyse der vielfältigen politisch-konstitutionellen Ausprägungen auf dem europäischen Kontinent erforderlich ist. Vielmehr machte er auch den räumlichen Zugriff des Projekts plausibel, der zwar das gesamte geografische Europa (einschließlich Russlands und des Osmanischen Reichs) einbezieht, aber aus methodischen Gründen den außereuropäischen Kontext nur punktuell und nicht systematisch berücksichtigt. Daran anschließend arbeitete Dr. Werner Daum die gemeinsamen Entwicklungslinien bzw. Transfervorgänge in der europäischen Verfassungsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts heraus. Mit Fokus auf der Ebene der zentralen staatlichen Ordnung, aber auch unter Einbeziehung der politischen Repräsentation und Partizipation (Demokratisierung und/oder Parlamentarisierung) sowie der Grundrechtegewähr im Verwaltungs- und Rechtsstaat identifizierte er gemeinsame europäische Verfassungsprinzipien und Verfassungsregionen, die einzelstaatliche Sonderentwicklungen überwanden, auch wenn diese europäischen Transfer- und Rezeptionsvorgänge etwa in Form periodisch auftretender „Konstitutionalisierungswellen“ immer zeitlich und teilräumlich begrenzt waren.
In ihrer gemeinsamen Bilanz kamen die Referenten bezüglich der eingangs formulierten Fragestellung zu einem positiven Ergebnis: Obwohl nicht „Europa“, sondern der Nationalstaat das Leitbild des 19. Jahrhunderts war, sind gemeinsame verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinien, etwa in Form überregional wirksamer Modell- oder Leitbildverfassungen, in der europäischen Staatenwelt feststellbar. Der Kern eines spezifisch europäischen Verständnisses von politischer Ordnung und Verfassung liegt demnach in dem qualitativ neuen Legitimitätserfordernis begründet, an dem politische Herrschaft auf dem Kontinent seit Aufklärung und Französischer Revolution nicht mehr vorbeikommt.
Peter Brandt, geb. 1948 in Berlin, 1989-2014 Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen, dort 2003-2017 auch Direktor des interdisziplinären Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, seither Ehrendirektor ebd.; Publikationsschwerpunkte in den Bereichen Vergleichende Europäische Verfassungsgeschichte, Geschichte Nordeuropas, der Staat Preußen, Nationsbildung und Nationalbewegung, die „deutsche Frage“, Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus; Mitglied u.a. im Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Werner Daum, geb. 1961 in Karlsruhe, 2006-2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrgebiets für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte am Historischen Institut der Fern-Universität in Hagen, seit Herbst 2012 Leiter des Regionalzentrums Karlsruhe der FernUniversität sowie Externer Korrespondent des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften; Veröffentlichungen zur Neueren Italienischen Geschichte (Risorgimento), zur Europäischen Verfassungsgeschichte und zur Öffentlichkeits- und Publizistikgeschichte im langen 19. Jahrhundert.
Projektseite: Handbuch- und Editionsprojekt zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (mit weiteren Publikationshinweisen)
Zur Aufzeichnung der Veranstaltung [.mp4-Datei]
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