Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Populismus – Krisenphänomen der Moderne
21. Oktober 2020, 18 Uhr
apl. Prof. Dr. Norbert Franz
Flyer zur Veranstaltung (PDF 982 KB)
Eine sozialwissenschaftliche Antwort auf den Populismus: seine konstruktive Nutzbarmachung zur Bewältigung der Demokratiekrise
„Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus“, konstatierten bereits Ende der 1960er Jahre die Sozialwissenschaftler Ernest Gellner und Ghita Ionescu unter Anspielung auf die markante Formulierung Marx‘ und Engels im „Kommunistischen Manifest“ (1848). Seither hat der Vorwurf des „Populismus“ im politischen Diskurs unserer Zeit eher noch zugenommen. Ob infolge der sog. Flüchtllingskrise von 2015, im Schlepptau der mit der Corona-Pandemie seit Frühjahr 2020 aufkommenden Verschwörungstheorien oder während des im Herbst desselben Jahres eskalierenden US-Wahlkampfes – der Begriff des Populismus scheint ungemein populär geworden zu sein. Dies bildete den Anlass für eine intensivere wissenschaftliche und historische Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Funktion dieses Begriffs in der Online-Veranstaltung der „Gespräche am Tor“.
In einer systematischen Analyse klärte Prof. i.R. Dr. Norbert Franz (Universitäten Luxembourg und Trier) auf der Grundlage der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung zunächst den begrifflichen Gehalt und die stufenweise Entwicklung von Populismus. Anhand eines mehrdimensionalen Stufenmodells machte er den spezifischen Gehalt des Populismus (Volksbegriff, Kommunikationsstil, soziale Organisationsform) verständlich. Dessen idealtypische Entwicklungsphasen verlaufen über die anfängliche Latenz und ein sich daran anschließendes Unbehagen bis hin zur politischen Sammlung und politischen Machtteilhabe, welche wiederum Anlass für die Ausbildung klientelistischer, korruptiver und antidemokratischer Herrschaftspraktiken gibt. Im Anschluss verifizierte der Referent diese wissenschaftliche Eingrenzung des Begriffs anhand historischer und gegenwärtiger Formen des Populismus. Von der Anti-Einwanderungsbewegung in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts über den vor allem im mediterranen Raum entstehenden Links- und den nordeuropäischen Rechtspopulismus bis hin zu seinen jüngeren Formationen (PEGIDA, AfD, FPÖ, FIDEZ, Lega Nord, 5Stelle, Chavez, Bolsonaro etc.) hat sich der Populismus inzwischen zu einem globalen Phänomen verdichtet. Vor diesem Hintergrund zeigte Norbert Franz die Entstehungshintergründe für Populismus auf, um dann mit konkreten Problemlösungen als Ausweg aus der populistischen Falle vieler Demokratien zu enden. Dabei plädierte der Referent dafür, den Populismus zwar als Krisenphänomen der Moderne ernst zu nehmen, ohne jedoch seinen Scheinlösungen zu erliegen, denen es eine konstruktive Auseinandersetzung mit den drei Kernproblemen unserer Zeit entgegenzusetzen gilt – der sozialen Spaltung, der Kriegsgefahr und der Umweltzerstörung.
Die während des Online-Vortrags im Chat und in der anschließenden Diskussion aufgeworfenen Fragen setzten sich mit den Ursachen von Populismus auseinander, unter denen vor allem die aus Globalisierung und Digitalisierung resultierende Komplexität der Welt, aber auch die jüngsten Krisenerfahrungen (Finanz-, Klima-, Gesundheitskrise) hervorgehoben wurden, da die daraus resultierenden Verlust- und Abstiegsängste den Nährboden für populistische Bewegungen bildeten. Auch das Verhältnis des Populismus zur Presse, zu den Generationen und den Parteien wurde erörtert. Etliche Fragen kreisten um die Abgrenzung des Populismus von (extremistischen) politischen Ideologien, wobei auch auf eine mögliche Funktion des Populismusbegriffs als verharmlosende, manchem „Populisten“ willkommene Fremdzuschreibung hingewiesen wurde.
Norbert Franz, geb. 1954, widmete sich nach langjähriger Berufstätigkeit als Buchhändler und Industriearbeiter vor allem der Familienarbeit und der Erziehung seiner Kinder. In dieser Zeit machte er die Abiturprüfung für Nichtschüler und studierte an der Universität Trier Geschichte und Germanistik. 1998 wurde er zum Dr. phil. promoviert und forschte über die Geschichte ländlicher Gesellschaften im 19. Jahrhundert. Nach seiner Habilitation 2006 lehrte und forschte er am Institut d’Études Politiques de Paris und den Universitäten Luxemburg und Trier zu Themenbereichen der Neueren und Neuesten Geschichte. 2010 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Seit Mitte 2019 lebt Norbert Franz im Ruhestand und forscht über Aspekte der sozio-ökologischen Transformation, insbesondere im Ernährungssektor.
Vortrag von Prof. Dr. Norbert Franz im Wortlaut (PDF 198 KB)
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