Profil
Die soziologische Gegenwartsdiagnose soll die oftmals unübersichtlichen und widersprüchlichen Entwicklungen der modernen Gesellschaften auf den Punkt bringen. Sie operiert hierbei zwischen der „reinen“ Theorie und der empirischen Forschung. Sie versucht also, weitreichende Aussagen zur Entwicklung der Gegenwartsgesellschaften unter Rückbezug auf empirische Befunde zu formulieren. Die Gegenwartsdiagnose wirft bildlich gesprochen „Steine ins Wasser“ und beobachtet, wie sich die Wellen an etablierten Theorien und empirischen Befunden „brechen“, welche Resonanz ihre Behauptungen also gesellschaftlich auszulösen verstehen. Ob wir in einer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), im „Neoliberalismus“ (Pierre Bourdieu), in der „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) oder im „flexiblen Kapitalismus“ (Richard Sennett) leben, ob wir postulieren, die Prozesse der modernen Gesellschaft seien zu schnell geworden für ihre Mitglieder (Hartmut Rosa), oder annehmen, dass es zu einer „Refeudalisierung“ sozialer Beziehungen komme (Sighard Neckel), all dies wird in der Gegenwartsdiagnose anhand empirischer Befunde und Entwicklungen her- und nicht nur theoretisch abgeleitet. Immer aber nehmen Gegenwartsdiagnosen die ganze Gesellschaft in den Blick – selbst wenn Theoretiker wie Niklas Luhmann auf die Schwierigkeit verwiesen haben, das „Ganze“ in der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften überhaupt noch beobachten zu können.
Der Arbeitsbereich Soziologie II untersucht die Struktur und Dynamik moderner Gegenwartsgesellschaften. Pointierte Gesellschaftsbestimmungen wie „Finanzmarktkapitalismus“ oder „Individualisierung“ dienen dabei ebenso der Interpretation dieser Gesellschaften wie sie Grundlage ihrer Kritik und Veränderung sind. Hierbei werden die folgenden Schwerpunkte gesetzt:
Erstens wird die Veränderung der institutionellen Ordnung, der Sozialstruktur und der Wertvorstellungen untersucht, wobei unser besonderes Interesse der Entwicklung der sozialen Ungleichheit und damit der Frage gilt, welche Gruppen in welcher Weise an der Gesellschaft partizipieren können – oder eben nicht. Empirisch soll dies vor allem im Feld der Arbeit, der Bildung und der Etablierung netzgestützter Sozialbeziehungen untersucht werden.
Zweitens steht die Bedeutung der Märkte für die Entwicklung der Gegenwartsgesellschaften im Mittelpunkt, insbesondere der Finanzmärkte. Die letzte – und andauernde - Finanzkrise hat die Welt an den Rand nicht nur des ökonomischen Zusammenbruchs gebracht, sondern erschüttert das Gefüge globaler Institutionen und den Bestand der Weltgesellschaft, wie wir sie kennen, insgesamt. Es wird insbesondere untersucht, wie Finanzmärkte „funktionieren“ (und auch hier wieder: „oder auch nicht“), welche Akteure, Organisationen und Institutionen relevanten Einfluss auf das Finanzmarktgeschehen nehmen und wie sich die Krisen der (Finanz-)Märkte auf die soziale Integration der Gesellschaft auswirken. Die soziologische Gegenwartsdiagnose muss hierbei die Erkenntnisse aus mindestens drei Forschungsfeldern zusammenziehen: den praxis- und wissenssoziologischen Forschungen zum Finanzhandeln, den politikwissenschaftlichen Studien zur institutionellen Regulierung des Finanzmarkts, sowie den Forschungen zu seinen sozio-ökonomischen Auswirkungen.
Der dritte Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Unsicherheit und Flexibilisierung. Es ist die relative Berechenbarkeit der fordistischen Nachkriegsgesellschaft, auf deren Basis sich ein Wertewandel hin zu den so genannten postmaterialistischen Werten wie Selbstverwirklichung und Kreativität, politische und sexuelle Freiheit vollzogen hat. Seit einiger Zeit erleben die modernen Gegenwartsgesellschaften allerdings eine Rückkehr der Unsicherheit. Diese „neue Unsicherheit“ betrifft nicht allein Randschichten. Sie erfasst – vermittelt über flexibilisierte Unternehmen, eine veränderte Auffassung des Staatshandelns und die zunehmende Abhängigkeit vom Finanzmarkt immer breitere Bevölkerungsschichten. In diesem Arbeitsbereich soll untersucht werden, wie angesichts flexibler, marktexponierter und insgesamt offener Lebensverhältnisse dennoch stabile soziale Beziehungen und biografische Sicherheit hergestellt werden können („oder eben nicht“). Es soll untersucht werden, wie eine Gesellschaft, die immer mehr Flexibilität benötigt und Unsicherheit in Kauf nimmt, mit den berechtigten Ansprüchen der Individuen an sozialer Einbindung, Anerkennung und Berechenbarkeit versöhnt werden kann – aber auch, wie spiegelbildlich hierzu die Subjekte selbst zur Herstellung dieser Bedingungen beitragen.
Neuere Veröffentlichungen der Mitarbeiter des Lehrgebiets
- Uwe Vormbusch: Wirtschafts- und Finanzsoziologie: Eine kritische Einführung
- Uwe Vormbusch: Die Herrschaft der Zahlen
- Patrick Heiser: Meilensteine der qualitativen Sozialforschung
- Thomas Matys: Macht, Kontrolle und Entscheidungen in Organisationen: Eine Einführung in organisationale Mikro-, Meso- und Makropolitik