Kurs 0009 - Sommersemester 2003

Kurseinheit 3

Fall:

An einem Samstagmorgen fährt A mit seinem PKW auf den leicht abschüs­sigen Kundenparkplatz des Fotomarktes des Einzelhändlers E, um dort eine zur Reparatur abgegebene Fotokamera abzuholen. A sucht die Verkaufs­räume des Fotomarktes auf und nimmt dort die reparierte Fotokamera entge­gen.

Als A zu seinem PKW zurückgeht, setzt sich am oberen Ende des Parkplat­zes unbemerkt ein Einkaufswagen, der dort vom Mitarbeiter M des Foto­marktes abgestellt worden ist, selbständig in Bewegung. Der Einkaufswagen streift während seiner Fahrt den A, der infolgedessen das Gleichgewicht verliert und die in seiner Hand befindliche Fotokamera zu Boden fallen lässt. Die Kamera, die A vor 5 Jahren im neuwertigen Zustand für € 1.000,‑‑ ge­kauft hat und die nunmehr einen Gebrauchswert in Höhe von € 300,‑‑ be­sitzt, wird völlig zerstört.

A wendet sich an den E und fordert von ihm als Ersatz für den Verlust der Fotokamera die Zahlung von € 300,‑‑.

Der E lehnt jedoch jegliche Schadensersatzpflicht mit der Begründung ab, dass alle Mitarbeiter angewiesen seien, Einkaufswagen, die von Kunden mit nach draußen genommen werden, sofort wieder einzusammeln. Er, also E selbst, überprüfe diese Aufgabe der Mitarbeiter regelmäßig, was er anhand seiner Aufzeichnungen beweisen könne. Auch handele es sich bei M um einen langjährigen und stets zuverlässigen und sorgfältigen Mitarbeiter. Dies könne er durch die Personalakte nachweisen. Einen solchen Zwischenfall habe es während der Tätigkeit des M bisher nicht gegeben.

Kann A von E die Zahlung von € 300,‑‑ verlangen?

Bearbeiterhinweise:

Es sind nur Ansprüche aus unerlaubter Handlung zu prüfen! Ansprüche gegen Versicherungen sind nicht zu prüfen!

Lösung:

I. Anspruch des A gegen E auf Zahlung von € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB[1]

A könnte gegen E einen Anspruch auf Ersatz der € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB haben.

1. Tatbestand

Zunächst müsste E den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt haben.

Der Tatbestand setzt voraus, dass E eines der in § 823 Abs. 1 BGB genann­ten Rechte oder Rechtsgüter des A verletzt hat und dass diese Verletzung adäquat kausal für den Schaden des A war.

a) Rechtsgutsverletzung

Die Fotokamera des A ist beschädigt worden. Somit liegt eine Eigentums­verletzung bei A vor.

b) Handlung des E

Diese Eigentumsverletzung muss adäquat kausal auf einer Handlung des E, also auf einem Tun oder Unterlassen beruhen. Der vorliegende Sachverhalt enthält keine Anhaltspunkte für eine aktive Verletzungshandlung durch E. Allerdings könnte die festgestellte Eigentumsverletzung auf einem Unterlas­sen des E beruhen, wenn dieser es möglicherweise versäumt hat, notwendige Vorkehrungen zu treffen, damit die sich auf seinem Kundenparkplatz auf­haltenden Kunden keinen Schaden durch herumrollende Einkaufswagen erleiden können.

aa) Verkehrssicherungspflicht des E

Das Unterlassen wird einem aktiven Tun gleichgestellt, sofern den Nicht­handelnden eine Rechtspflicht zum Handeln und damit zur Verhinderung der Rechtsgutsverletzung trifft. Eine solche Rechtspflicht könnte für E als Inha­ber des Fotogeschäfts bestanden haben, wenn er aufgrund einer Verkehrssi­cherungspflicht gehalten gewesen ist, die auf dem Kundenparkplatz abge­stellten Einkaufswagen ordnungsgemäß abzusichern.

Verkehrssicherungspflichten, die eine Pflicht zum Handeln begründen, erge­ben sich in der Regel aus vorangegangenem gefährdenden Tun oder aus der Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle. So ist jeder verkehrssicherungs­pflichtig, der eine Gefahrenquelle geschaffen hat oder unterhält. In diesen Fällen ist derjenige, dem eine Verkehrssicherungspflicht obliegt, dazu ver­pflichtet, alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um vermeidbare Schädigungen, die Dritten durch die Gefahrenquelle drohen, zu verhindern.

Indem E seinen Kunden Einkaufswagen für den Transport der erworbenen Ware zu ihren auf dem Kundenparkplatz abgestellten Kraftfahrzeugen zur Verfügung stellt und die dort stehengelassenen Einkaufswagen für die Kun­den des E eine besondere Gefahr darstellen, weil sie sich eigenständig in Bewegung setzen und dann den abschüssigen Parkplatz herunterrollen kön­nen, hat E für seine Kundschaft eine während der Geschäftszeiten ständige Gefahrenquelle geschaffen.

Demnach ist E wegen der von den Einkaufswagen ausgehenden Gefahren gegenüber seinen Kunden verkehrssicherungspflichtig.

bb) Umwandlung der Verkehrssicherungspflicht in eine Aufsichtspflicht des E

E hat diese Verkehrssicherungspflicht auf seine Mitarbeiter übertragen. Durch die Übertragung wandelt sich diese Verkehrssicherungspflicht in eine Kontroll- und Überwachungspflicht um. E muss seine Mitarbeiter daraufhin kontrollieren, ob sie ihrerseits die Verkehrssicherungspflicht, die Einkaufs­wagen sofort wieder einzusammeln, ordnungsgemäß erfüllen. E kann anhand seiner Aufzeichnungen den Nachweis erbringen, dass er seiner Überwa­chungspflicht nachgekommen ist.

2. Ergebnis

Der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist damit nicht erfüllt. A hat gegen E keinen Anspruch auf Ersatz der € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB.

II. Anspruch des A gegen E auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB

A könnte gegen E einen Anspruch auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB haben.

1. Verrichtungsgehilfe

Dazu müsste M als Verrichtungsgehilfe des E in Ausführung der Verrich­tung eine tatbestandsmäßige unerlaubte Handlung begangen haben.

Verrichtungsgehilfe i.S. des § 831 BGB ist, wer von einem Geschäftsherrn gegen Entgelt oder unentgeltlich mit einer Tätigkeit tatsächlicher oder rechtsgeschäftlicher Art betraut ist und an die Weisungen des Geschäftsherrn gebunden ist.

M ist Mitarbeiter bei E und damit gegen Entgelt mit einer Tätigkeit – der Arbeit im Fotomarkt – betraut. Er ist im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses an die Weisungen seines Arbeitgebers E gebunden und damit dessen Ver­richtungsgehilfe.

2. Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB

Des weiteren müsste M den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt haben.

Der Tatbestand setzt voraus, dass M eines der in § 823 Abs. 1 BGB genann­ten Rechte oder Rechtsgüter des A verletzt hat und dass diese Verletzung adäquat kausal für den Schaden des A war.

a) Verletzung eines Rechts oder Rechtsguts im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB

In Betracht kommt eine Eigentumsverletzung. Die Kamera steht im Eigen­tum des A. Infolge der völligen Zerstörung seiner Kamera ist das Eigentum von A verletzt worden.

b) Handlung des M

Diese Eigentumsverletzung muss adäquat kausal auf einer Handlung des M, also auf einem Tun oder Unterlassen beruhen.

Eine Verletzungshandlung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB kann entweder durch aktives Tun oder durch das Unterlassen eines aktiven Tuns erfolgen. Der vorliegende Sachverhalt enthält keine Anhaltspunkte für eine aktive Verletzungshandlung durch M. Allerdings könnte die Eigentumsverletzung auf einem Unterlassen des M beruhen, wenn dieser es möglicherweise versäumt hat, notwendige Vorkehrungen zu treffen, damit die sich auf dem Kunden­parkplatz aufhaltenden Kunden keinen Schaden durch herumrollende Ein­kaufswagen erleiden können.

aa) Übertragung der Verkehrssicherungspflicht des E auf M

Wie oben bereits dargestellt, hat E seine Verkehrssicherungspflicht für das Parkplatzgelände auf M übertragen, indem er ihn angewiesen hat, auf dem Parkplatz abgestellte Einkaufswagen sofort wieder einzusammeln.

bb) Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch M

Diese Verkehrssicherungspflicht könnte M dadurch verletzt haben, dass er den Einkaufswagen nicht sofort vom Parkplatz entfernt hat.

M hatte von E die Anweisung bekommen, alle draußen abgestellten Ein­kaufswagen sofort wieder einzusammeln. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass der Kundenparkplatz leicht abschüssig ist und somit während der Öff­nungszeiten permanent die Gefahr besteht, dass ein von einem Kunden stehen gelassener Einkaufswagen sich selbständig in Bewegung setzt und, wäh­rend er abwärts rollt, einen Kunden verletzt oder das Eigentum eines Kunden beschädigt. Die Verkehrssicherungspflicht des M konnte somit nur dadurch gewahrt werden, dass die Einkaufswagen sofort eingesammelt werden.

Dies hat M nicht getan und damit die ihm von E übertragene Verkehrssiche­rungspflicht verletzt. Die Eigentumsverletzung bei A beruht also auf einem tatbestandsmäßigen Unterlassen des M.

c) Adäquate Kausalität zwischen Handlung und Rechtsgutsverletzung

Dieses Unterlassen des M müsste auch adäquat kausal für die Eigentums­verletzung gewesen sein. Hätte M den Einkaufswagen sofort vom Parkplatz entfernt, wäre dieser nicht in seiner Fahrt auf A geprallt und dieser hätte die Kamera nicht fallen lassen. Somit hätte sich die Eigentumsverletzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ereignet.

Das Unterlassen des M war somit adäquat kausal für die Eigentumsverlet­zung.

d) Schaden des A

Durch diese Rechtsgutsverletzung müsste dem A in adäquat kausaler Weise ein Schaden entstanden sein. Schaden ist jede Einbuße, die jemand unfrei­willig infolge eines bestimmten Ereignisses an seinen Lebensgütern wie Gesundheit, Ehre oder Eigentum erleidet.

Bei dem Unfall wurde die Kamera des A zerstört und damit dessen Eigen­tum beschädigt. Am Eigentum des A ist ein Schaden in Höhe von € 300,-- entstanden.

e) Adäquate Kausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden

Die Rechtsgutsverletzung kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der bei A entstandene Schaden entfiele. Somit war die Rechtsgutsverletzung adäquat kausal für den Schaden des B.

f) Zwischenergebnis

Der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist damit erfüllt.

3. Rechtswidrigkeit

Ein Rechtfertigungsgrund für das Handeln des M lag nicht vor. Somit han­delte er rechtswidrig.

4. Exkulpation

Fraglich ist, ob E sich gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren kann. Dann müsste ihm der Nachweis gelingen, dass ihn hinsichtlich der Auswahl und der Leitung des M kein Verschulden trifft. Hier ist zu berücksichtigen, dass E seine Verkehrssicherungspflicht auf M übertragen hatte. Überträgt ein Geschäftsherr seine Verkehrssicherungspflicht auf einen Mitarbeiter, ver­bleibt eine Aufsichtspflicht beim Geschäftsherrn, welche die nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB bestehende Entlastungsmöglichkeit einengt. Der Ge­schäftsherr muss auch nachweisen, dass er die Einhaltung der Verkehrssi­cherungspflichten durch seine Angestellten ordnungsgemäß kontrolliert hat.

Anhand der Personalakte kann E nachweisen, dass es sich bei M um einen Mitarbeiter handelt, welcher stets zuverlässig gewesen ist. Auch ist während der Tätigkeit des M bisher kein solcher Vorfall eingetreten. Somit trifft den E kein Verschulden bei Auswahl und Leitung des M. Des weiteren kann E belegen, dass er seiner Aufsichtspflicht ordnungsgemäß nachgekommen ist.

E kann sich somit gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren.

5. Ergebnis

A hat gegen E keinen Anspruch auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB.



[1] Zur Information: A könnte auch einen Anspruch gem. §§ 280, 241 Abs. 2 BGB haben. Dieses war aber nach dem Bearbeitungshinweis nicht gefordert.

Lehrstuhl Wackerbarth | 13.08.2021
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