Kurseinheit 3
Fall:
An einem Samstagmorgen fährt A mit seinem PKW auf den leicht abschüssigen Kundenparkplatz des Fotomarktes des Einzelhändlers E, um dort eine zur Reparatur abgegebene Fotokamera abzuholen. A sucht die Verkaufsräume des Fotomarktes auf und nimmt dort die reparierte Fotokamera entgegen.
Als A zu seinem PKW zurückgeht, setzt sich am oberen Ende des Parkplatzes unbemerkt ein Einkaufswagen, der dort vom Mitarbeiter M des Fotomarktes abgestellt worden ist, selbständig in Bewegung. Der Einkaufswagen streift während seiner Fahrt den A, der infolgedessen das Gleichgewicht verliert und die in seiner Hand befindliche Fotokamera zu Boden fallen lässt. Die Kamera, die A vor 5 Jahren im neuwertigen Zustand für € 1.000,‑‑ gekauft hat und die nunmehr einen Gebrauchswert in Höhe von € 300,‑‑ besitzt, wird völlig zerstört.
A wendet sich an den E und fordert von ihm als Ersatz für den Verlust der Fotokamera die Zahlung von € 300,‑‑.
Der E lehnt jedoch jegliche Schadensersatzpflicht mit der Begründung ab, dass alle Mitarbeiter angewiesen seien, Einkaufswagen, die von Kunden mit nach draußen genommen werden, sofort wieder einzusammeln. Er, also E selbst, überprüfe diese Aufgabe der Mitarbeiter regelmäßig, was er anhand seiner Aufzeichnungen beweisen könne. Auch handele es sich bei M um einen langjährigen und stets zuverlässigen und sorgfältigen Mitarbeiter. Dies könne er durch die Personalakte nachweisen. Einen solchen Zwischenfall habe es während der Tätigkeit des M bisher nicht gegeben.
Kann A von E die Zahlung von € 300,‑‑ verlangen?
Bearbeiterhinweise:
Es sind nur Ansprüche aus unerlaubter Handlung zu prüfen! Ansprüche gegen Versicherungen sind nicht zu prüfen!
Lösung:
I. Anspruch des A gegen E auf Zahlung von € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB[1]
A könnte gegen E einen Anspruch auf Ersatz der € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB haben.
1. Tatbestand
Zunächst müsste E den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt haben.
Der Tatbestand setzt voraus, dass E eines der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechte oder Rechtsgüter des A verletzt hat und dass diese Verletzung adäquat kausal für den Schaden des A war.
a) Rechtsgutsverletzung
Die Fotokamera des A ist beschädigt worden. Somit liegt eine Eigentumsverletzung bei A vor.
b) Handlung des E
Diese Eigentumsverletzung muss adäquat kausal auf einer Handlung des E, also auf einem Tun oder Unterlassen beruhen. Der vorliegende Sachverhalt enthält keine Anhaltspunkte für eine aktive Verletzungshandlung durch E. Allerdings könnte die festgestellte Eigentumsverletzung auf einem Unterlassen des E beruhen, wenn dieser es möglicherweise versäumt hat, notwendige Vorkehrungen zu treffen, damit die sich auf seinem Kundenparkplatz aufhaltenden Kunden keinen Schaden durch herumrollende Einkaufswagen erleiden können.
aa) Verkehrssicherungspflicht des E
Das Unterlassen wird einem aktiven Tun gleichgestellt, sofern den Nichthandelnden eine Rechtspflicht zum Handeln und damit zur Verhinderung der Rechtsgutsverletzung trifft. Eine solche Rechtspflicht könnte für E als Inhaber des Fotogeschäfts bestanden haben, wenn er aufgrund einer Verkehrssicherungspflicht gehalten gewesen ist, die auf dem Kundenparkplatz abgestellten Einkaufswagen ordnungsgemäß abzusichern.
Verkehrssicherungspflichten, die eine Pflicht zum Handeln begründen, ergeben sich in der Regel aus vorangegangenem gefährdenden Tun oder aus der Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle. So ist jeder verkehrssicherungspflichtig, der eine Gefahrenquelle geschaffen hat oder unterhält. In diesen Fällen ist derjenige, dem eine Verkehrssicherungspflicht obliegt, dazu verpflichtet, alle erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um vermeidbare Schädigungen, die Dritten durch die Gefahrenquelle drohen, zu verhindern.
Indem E seinen Kunden Einkaufswagen für den Transport der erworbenen Ware zu ihren auf dem Kundenparkplatz abgestellten Kraftfahrzeugen zur Verfügung stellt und die dort stehengelassenen Einkaufswagen für die Kunden des E eine besondere Gefahr darstellen, weil sie sich eigenständig in Bewegung setzen und dann den abschüssigen Parkplatz herunterrollen können, hat E für seine Kundschaft eine während der Geschäftszeiten ständige Gefahrenquelle geschaffen.
Demnach ist E wegen der von den Einkaufswagen ausgehenden Gefahren gegenüber seinen Kunden verkehrssicherungspflichtig.
bb) Umwandlung der Verkehrssicherungspflicht in eine Aufsichtspflicht des E
E hat diese Verkehrssicherungspflicht auf seine Mitarbeiter übertragen. Durch die Übertragung wandelt sich diese Verkehrssicherungspflicht in eine Kontroll- und Überwachungspflicht um. E muss seine Mitarbeiter daraufhin kontrollieren, ob sie ihrerseits die Verkehrssicherungspflicht, die Einkaufswagen sofort wieder einzusammeln, ordnungsgemäß erfüllen. E kann anhand seiner Aufzeichnungen den Nachweis erbringen, dass er seiner Überwachungspflicht nachgekommen ist.
2. Ergebnis
Der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist damit nicht erfüllt. A hat gegen E keinen Anspruch auf Ersatz der € 300,-- aus § 823 Abs. 1 BGB.
II. Anspruch des A gegen E auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB
A könnte gegen E einen Anspruch auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB haben.
1. Verrichtungsgehilfe
Dazu müsste M als Verrichtungsgehilfe des E in Ausführung der Verrichtung eine tatbestandsmäßige unerlaubte Handlung begangen haben.
Verrichtungsgehilfe i.S. des § 831 BGB ist, wer von einem Geschäftsherrn gegen Entgelt oder unentgeltlich mit einer Tätigkeit tatsächlicher oder rechtsgeschäftlicher Art betraut ist und an die Weisungen des Geschäftsherrn gebunden ist.
M ist Mitarbeiter bei E und damit gegen Entgelt mit einer Tätigkeit – der Arbeit im Fotomarkt – betraut. Er ist im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses an die Weisungen seines Arbeitgebers E gebunden und damit dessen Verrichtungsgehilfe.
2. Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB
Des weiteren müsste M den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt haben.
Der Tatbestand setzt voraus, dass M eines der in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechte oder Rechtsgüter des A verletzt hat und dass diese Verletzung adäquat kausal für den Schaden des A war.
a) Verletzung eines Rechts oder Rechtsguts im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB
In Betracht kommt eine Eigentumsverletzung. Die Kamera steht im Eigentum des A. Infolge der völligen Zerstörung seiner Kamera ist das Eigentum von A verletzt worden.
b) Handlung des M
Diese Eigentumsverletzung muss adäquat kausal auf einer Handlung des M, also auf einem Tun oder Unterlassen beruhen.
Eine Verletzungshandlung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB kann entweder durch aktives Tun oder durch das Unterlassen eines aktiven Tuns erfolgen. Der vorliegende Sachverhalt enthält keine Anhaltspunkte für eine aktive Verletzungshandlung durch M. Allerdings könnte die Eigentumsverletzung auf einem Unterlassen des M beruhen, wenn dieser es möglicherweise versäumt hat, notwendige Vorkehrungen zu treffen, damit die sich auf dem Kundenparkplatz aufhaltenden Kunden keinen Schaden durch herumrollende Einkaufswagen erleiden können.
aa) Übertragung der Verkehrssicherungspflicht des E auf M
Wie oben bereits dargestellt, hat E seine Verkehrssicherungspflicht für das Parkplatzgelände auf M übertragen, indem er ihn angewiesen hat, auf dem Parkplatz abgestellte Einkaufswagen sofort wieder einzusammeln.
bb) Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch M
Diese Verkehrssicherungspflicht könnte M dadurch verletzt haben, dass er den Einkaufswagen nicht sofort vom Parkplatz entfernt hat.
M hatte von E die Anweisung bekommen, alle draußen abgestellten Einkaufswagen sofort wieder einzusammeln. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass der Kundenparkplatz leicht abschüssig ist und somit während der Öffnungszeiten permanent die Gefahr besteht, dass ein von einem Kunden stehen gelassener Einkaufswagen sich selbständig in Bewegung setzt und, während er abwärts rollt, einen Kunden verletzt oder das Eigentum eines Kunden beschädigt. Die Verkehrssicherungspflicht des M konnte somit nur dadurch gewahrt werden, dass die Einkaufswagen sofort eingesammelt werden.
Dies hat M nicht getan und damit die ihm von E übertragene Verkehrssicherungspflicht verletzt. Die Eigentumsverletzung bei A beruht also auf einem tatbestandsmäßigen Unterlassen des M.
c) Adäquate Kausalität zwischen Handlung und Rechtsgutsverletzung
Dieses Unterlassen des M müsste auch adäquat kausal für die Eigentumsverletzung gewesen sein. Hätte M den Einkaufswagen sofort vom Parkplatz entfernt, wäre dieser nicht in seiner Fahrt auf A geprallt und dieser hätte die Kamera nicht fallen lassen. Somit hätte sich die Eigentumsverletzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ereignet.
Das Unterlassen des M war somit adäquat kausal für die Eigentumsverletzung.
d) Schaden des A
Durch diese Rechtsgutsverletzung müsste dem A in adäquat kausaler Weise ein Schaden entstanden sein. Schaden ist jede Einbuße, die jemand unfreiwillig infolge eines bestimmten Ereignisses an seinen Lebensgütern wie Gesundheit, Ehre oder Eigentum erleidet.
Bei dem Unfall wurde die Kamera des A zerstört und damit dessen Eigentum beschädigt. Am Eigentum des A ist ein Schaden in Höhe von € 300,-- entstanden.
e) Adäquate Kausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden
Die Rechtsgutsverletzung kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der bei A entstandene Schaden entfiele. Somit war die Rechtsgutsverletzung adäquat kausal für den Schaden des B.
f) Zwischenergebnis
Der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist damit erfüllt.
3. Rechtswidrigkeit
Ein Rechtfertigungsgrund für das Handeln des M lag nicht vor. Somit handelte er rechtswidrig.
4. Exkulpation
Fraglich ist, ob E sich gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren kann. Dann müsste ihm der Nachweis gelingen, dass ihn hinsichtlich der Auswahl und der Leitung des M kein Verschulden trifft. Hier ist zu berücksichtigen, dass E seine Verkehrssicherungspflicht auf M übertragen hatte. Überträgt ein Geschäftsherr seine Verkehrssicherungspflicht auf einen Mitarbeiter, verbleibt eine Aufsichtspflicht beim Geschäftsherrn, welche die nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB bestehende Entlastungsmöglichkeit einengt. Der Geschäftsherr muss auch nachweisen, dass er die Einhaltung der Verkehrssicherungspflichten durch seine Angestellten ordnungsgemäß kontrolliert hat.
Anhand der Personalakte kann E nachweisen, dass es sich bei M um einen Mitarbeiter handelt, welcher stets zuverlässig gewesen ist. Auch ist während der Tätigkeit des M bisher kein solcher Vorfall eingetreten. Somit trifft den E kein Verschulden bei Auswahl und Leitung des M. Des weiteren kann E belegen, dass er seiner Aufsichtspflicht ordnungsgemäß nachgekommen ist.
E kann sich somit gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren.
5. Ergebnis
A hat gegen E keinen Anspruch auf Zahlung von € 300,-- aus § 831 Abs. 1 BGB.
[1] Zur Information: A könnte auch einen Anspruch gem. §§ 280, 241 Abs. 2 BGB haben. Dieses war aber nach dem Bearbeitungshinweis nicht gefordert.