Statement von Prof. Dr. Katharina Walgenbach

Foto: Die Hoffotografen

In Co-Autor_innenschaft mit Dr. Maximilian Waldmann, Dr. Maik Wunder und Nadja Körner, M.A. entstanden.

Ein visionäres Verständnis von New Learning im digitalen Zeitalter muss auch die unterschiedlichen sozialen, materiellen und kulturellen Voraussetzungen des digitalen Lernens berücksichtigen. In diesem Sinne sind individualisiertes bzw. personalisiertes Lernen, selbstgesteuertes Lernen, entgrenztes Lernen etc. im Kontext der Digitalisierung sowohl im Hinblick auf ihre milieuspezifischen Orientierungen zu reflektieren als auch an Fragen der Bildungsgerechtigkeit, Inklusion und Chancengleichheit auszurichten.

In der Schulpädagogik wusste man bereits in den 1970er Jahren: Wenn individuelles bzw. personalisiertes Lernen nicht an eine gemeinsame Zielerreichung rückgebunden ist, kann dies auch zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheiten führen, da sich das Leistungsspektrum immer weiter auseinanderzieht. Bildungsinstitutionen sind dann nicht allein mit sozialer Ungleichheit konfrontiert, sondern stellen diese auch selbst her. New Learning erfordert deshalb ein reflexives Verständnis gegenüber dem Topos „individualisiertes Lernen“ im Kontext digitaler Bildungsprozesse. Besonders für diejenigen Bildungsinstitutionen, die in unserer Gesellschaft eine Allokationsfunktion übernehmen, macht es einen Unterschied, ob sich adaptives bzw. personalisiertes Lernen mit digitalen Medien auf individualisierte Methoden bei gleichen Lernzielen bezieht, oder ob auch die Bildungsinhalte und -ziele variieren sollen. Auf der Makroebene könnte eine einseitige Akzentuierung von individualisiertem Lernen zudem das Phänomen der digitalen Echokammern begünstigen, die für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft nicht förderlich sind. New Learning sollte deshalb ebenfalls kooperatives, kollektives und partizipatives Lernen in den Blick nehmen.

Auch selbstgesteuertes oder selbstorganisiertes Lernen ist ein sozial bzw. pädagogisch voraussetzungsvoller Topos, da hier Fähigkeiten gefordert sind, die nicht in allen Milieus gleichermaßen vermittelt werden. Selbstgesteuertes Lernen kommt vor allem dem Habitus, Lernstilen und Wertorientierungen der oberen Milieus entgegen. Für andere Milieus muss selbstgesteuertes Lernen häufig erst einmal in Bildungsinstitutionen erlernt werden. Es reicht deshalb nicht, Menschen mit digitaler Technik auszustatten, denn Mediennutzung divergiert milieuspezifisch. Gleichzeitig sind diese digitalen Effekte auf soziale Ungleichheit mit weiteren Faktoren verknüpft, etwa physischen Räumen zum Lernen, einem anregenden und förderlichen Umfeld etc. Für selbstgesteuertes Lernen müssen somit auch materielle und anregende Bildungsräume zur Verfügung gestellt werden, um nicht einen Matthäuseffekt zu erzeugen. Neue Formen sozialer Ungleichheiten können sich aber auch in der Erhebung und Nutzung von Lerndaten im Kontext von Big Data und Learning Analytics manifestieren, bspw. indem big data rich und poor persons entstehen.

Digitale Lehr- und Lernformen können Inklusion, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sowohl vorantreiben als auch neue Barrieren und Ausschlüsse produzieren. Aus einer Inklusionsperspektive sollten digitale Lernangebote deshalb systematisch von Beginn an nach den Prinzipien des Universal Designs (for learning) gestaltet werden, damit sie barrierearm, heterogenitätssensibel und bedürfnisorientiert ausgerichtet sind. Bei nachträglichen Anpassungen von digitalen Lehr-Lernszenarien (accommodation approach/retrofit approach) besteht die Gefahr, dass deren uneingeschränkte Zugänglichkeit und Nutzbarkeit in die Verantwortung einzelner Individuen gelegt wird und nicht als zentrale Aufgabe von Bildungsinstitutionen verstanden wird. Für Menschen mit Behinderungen bedeutet dies bspw., dass eine Teilhabe an digitalen Lernprozessen nur durch individuellen Mehraufwand möglich ist. Nicht zuletzt sind digitale Lernangebote an geltende rechtliche Verordnungen zur Barrierefreiheit auszurichten (BITV 2.0, WCAG).

Im Horizont von Chancengleichheit, Inklusion und Bildungsgerechtigkeit bedeutet New Learning nicht allein, Lernende fit für die Arbeitswelt zu machen und mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten, sondern Teilhabe, Mitgestaltung sowie Reflexions- und Kritikfähigkeit im Hinblick auf die digitale Transformation der Gesellschaft zu ermöglichen. Ein informationstechnisches und kompetenzorientiertes Verständnis von Lernen greift hier zu kurz, da es der Tendenz nach die pädagogische Sozialdimension ausblendet (Lernen braucht den Bezug zum Anderen), unabhängig von der Inhaltsdimension operiert (Lernen lässt sich nicht ohne Herausforderungen durch Lerngegenstände denken) und Lernprozesse jenseits gesellschaftlicher Wirklichkeiten verortet (soziale Ungleichheit, Diskriminierung, Macht- und Herrschaftsmechanismen wirken sich stets auf Lernsettings aus).

Folglich bedeutet New Learning, dass digitale Lernprozesse an eine pädagogische Verantwortungsdimension rückgebunden werden müssen. Im Hinblick auf die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte erfordert dies: Eine Sensibilisierung für die Problematik sozialer Spaltungen durch Digitalisierung, die Fähigkeit zu gesellschaftstheoretisch fundierter Kritik an milieuspezifischen wie kognitivistisch verengten Vorstellungen vom digitalen Lernen (z.B. „Selbststeuerung“ oder „Selbstkompetenz“), die Bereitschaft zur Erprobung digitaler heterogenitätssensibler Gestaltungspraktiken sowie Reflexionsfähigkeit im Hinblick auf soziale Ungleichheit, Barrierefreiheit und Inklusion in digitalen Lernprozessen (inklusive der Reflexion des eigenen sozialen und pädagogischen Habitus).


Über Prof. Dr. Katharina Walgenbach

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Team des Lehrgebiets Bildung und Differenz