Prof. Dr. Julia Schütz

Foto: Hardy Welsch

In Co-Autorenschaft mit Dr. Lena Rosenkranz, Dr. Stefan Klusemann, Prof. Dr. Dieter Nittel und Prof. Dr. Rudolf Tippelt entstanden.

New Learning impliziert einen grundlegenden Wandel des Lernens, etwas Neues. Darin liegt Freiheit, Energie und Motivation. New Learning bedeutet eine nicht nur auf den technologischen Wandel aufbauende Innovation, sondern sowohl auf der didaktischen Mikro-, Meso- und Makroebene. Auf der Mikroebene verändert dies die Struktur der pädagogischen Arbeitsbeziehung; auf der Mesoebene nimmt die Arbeitsteilung in den pädagogischen Einrichtungen eine andere Gestalt an (flachere Hierarchien) und auf der Makroebene setzt New Learning eine andere Kooperationskultur zwischen den großen Segmenten des Erziehungs- und Bildungswesen voraus. Nicht die Technik des Lehrens und Lernens, sondern die Kultur verändert sich. Als Herausforderung folgen daraus u.a. zwei Aspekte:

1. Aufgrund der starken Institutionalisierung von Lernprozessen in Bildungseinrichtungen kann New Learning immer nur an dieses organisational bestimmte und regeldurchdrungene System angebunden werden. Das Neue kann daher eben doch nicht frei gedacht werden, sondern nur in Abhängigkeit von bereits bestehenden Strukturen und auch qualifizierten Personen. Daraus folgt, dass neue Strukturen innerhalb des Erziehungs- und Bildungssystems geschaffen und die (alle) pädagogischen Akteure*innen geschult werden müssen. Zu identifizieren bleibt, inwiefern Lernprozesse durch digitale Medien einerseits grundsätzlich „neu“ sind, andererseits aber auch übertragbare Konzepte und Herausforderungen aus dem Präsenzunterricht bestehen bleiben – somit auch genuine Aspekte des Lernens beim New Learning greifen. Im Kern bedeutet dies eine gewisse intelligente Selbstbegrenzung, und zwar auf das formale und non-formale Lernen. Die Hybris im Diskurs des informellen Lernens sollte vermieden werden. Das New Learning sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren, und das aus der Sicht der Pädagog*innen organisierte Lernen in dafür geschaffenen didaktischen Arrangements. Jeder Versuch, das informelle Lernen zu instrumentalisieren, kommt letztlich einer Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas) recht nahe.

2. New Learning fokussiert darauf wie wir lernen, aber nicht unbedingt was wir lernen. Das sollte mindestens für den vorschulischen und schulischen Bildungsbereich, aber auch ganz grundsätzlich mitgedacht werden – wie wird das im Manifest transportiert? Sollte z.B. Schule auf New Learning vorbereiten? Oder dieses selbst verankern? Fängt New Learning alle Facetten des digitalen Wandels und auch den Bildungsauftrag in seiner gesamten Breite ein? Wie kann das New Learning die umfassende Initiierung von Lern-, Bildungs- und Reflexionsprozessen berücksichtigen? Können wir über alle Bildungsbereiche hinweg Aussagen treffen?

New Learning kann eine Antwort auf das Reflexivwerden des lebenslangen Lernens sein: Es geht nicht mehr um die Frage des „OB“, sondern um die Frage des „WIE“. Oder noch zugespitzter: Es geht um die Frage des Lernens des Lernens. New Learning grenzt sich von vorne herein von der segmentbezogenen Sichtweise ab und fokussiert das pädagogisch organisierte System des lebenslangen Lernens als solches. Darüber hinaus gilt es grundlegend zu klären, inwieweit der Begriff des New Learnings nicht als ein weiterer „Containerbegriff“ in den erziehungs-/bildungswissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden kann und sollte, sondern dieser auf wissenschaftlichen Erkenntnissen substantiell belegt werden kann. Diesen Prozess sehen wir als eine zentrale, bildungsbereichsübergreifende und alle Akteursebenen involvierende Aufgabe an.

Aus wissenschaftlicher Perspektive wird eine Professionalisierungslücke im Umgang mit digitalen Medien und ihrem methodisch-didaktischen Einsatz u.a. in der Lehrerbildung identifiziert (vgl. Brümer/Durdel/Fischer-Münnich et al. 2018; Schiefer-Rohs/Bergmann/Brinkmann et al. 2018; Monitor Lehrerbildung 2018). Damit verbunden besteht die Forderung, Lehrkräfte müssten „zukünftig stärker als bisher fähig sein bzw. befähigt werden, digitale Medien kompetent und didaktisch reflektiert für die (fachspezifische) Gestaltung von Lehren und Lernen im Kontext der Organisation Schule [...] einzusetzen und Kompetenzen für eine zielgerichtete Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler*innen in der digital geprägten Gesellschaft zu fördern“ (van Ackeren/Aufenanger/Eickelmann et al. 2019: 106). Aus professionstheoretischer Perspektive ist hierfür eine sukzessive Entwicklung von Kompetenzen notwendig, die mit der Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen nur in Teilen unterstützt werden kann.

Die Professionalisierungslücke ist auch teilweise bei bereits tätigen Lehrkräften identifizierbar. Laut einer Studie der Initiative D21 (2016) verfügen nicht einmal die Hälfte der Lehrkräfte über einen konzeptionellen und strategischen Rahmen, wie digitale Bildung im Unterricht Einzug finden kann (vgl. Initiative D21 2016: 32). An Relevanz gewinnt im Zuge eines digitalen Transformationsprozesses nicht nur die Kompetenz der Lehrer*innen, sondern auch die medienbezogene Ausstattung und der technische Support sowie die eingesetzten digitalen Tools im Einzelnen. „Viele digitale Tools sind [...] noch nicht wirklich qualitätsgeprüft bzw. nicht speziell für den Schulkontext entwickelt“ (van Ackeren/Endberg/Locker-Grütjen 2020: 247). Die beschriebene Situation lässt sich größtenteils auch im Hochschulsektor ablesen, wenngleich hier der Bildungsauftrag ein anderer ist und die Studierendenschaft anders als die Schüler*innen auf die digitale Transformation vorbereitet werden müssen. Auch hier werden deutliche Entwicklungspotenziale im Bereich der Digitalisierung identifiziert (vgl. HIS-HE 2020). Die digitalunterstützte Lehre und Forschung nehmen zwar sukzessive zu, jedoch variieren der Grad und die Art der Nutzung maßgeblich in Abhängigkeit von einzelnen Lehrenden und fachspezifischen Implikationen (vgl. ebd.). Die aktuell am ZeBO verankerte Studie zur „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise (Pro-BiKri-Studie)“ stellt die Sicherung von Bildungsgerechtigkeit als eine immense Herausforderung im digitalen Wandel heraus. Diese Herausforderung bleibt auch unter dem New Learning bestehen.

Die Ausgangslage zum digitalen Lernen ist auch vor dem Hintergrund der organisationalen Strukturen zu denken. Das institutionalisierte Erziehungs- und Bildungssystem gibt den Rahmen vor: der Besuch einer Kindertagesstätte und der Schulbesuch sind obligatorisch. Zentrale Kennzeichen des Systems sind die (zumeist pädagogische) Betreuung und Begleitung der Lehr-Lernprozesse, die Separation vom Alltag der weiteren Lebenswelt sowie die zeitliche Strukturierung des Angebots. Durch die digitale Transformation – und durch die Corona-Pandemie beschleunigt – verändert sich das institutionalisierte Erziehungs- und Bildungssystem in unterschiedlicher Intensität in den zentralen Kennzeichen. Dies wird beispielhaft für die Zeitordnung, die Betreuungs-, Unterrichts- und Lehrkonzepte sowie die Separation in (weitere) Lebensbereiche skizziert.

  • Hoch-/Schulischer Fernunterricht kann nicht die zeitliche Ordnung eines dem Präsenzunterricht zugrunde gelegten Stundenplan verfolgen. Das synchrone Lernen in 45- bzw. 90-minütigen aufeinanderfolgenden Takten ist für Schüler*innen, Studierende, Lehrkräfte und Lehrende nicht möglich.
  • Die Betreuungs-, Unterrichts- und Lehrkonzepte erfordern nicht eine reine Digitalisierung, d.h. die Umwandlung analoger Lehrmaterialen und Unterrichtskonzepte in den digitalen Raum, sondern eigene mediendidaktisch durchdachte Konzepte, die von den (pädagogischen) Akteure*innen umgesetzt werden können.
  • Digitaler Unterricht oder Hochschullehre findet räumlich innerhalb der Lebenswelt und des Lebensorts der Schüler*innen, Studierenden, Lehrer*innen und Lehrenden statt. Die Entgrenzung von Lebenswelt und Lernort erfordert die Berücksichtigung dieser neuen Voraussetzung aller Beteiligten.

Aussagen zur Ausgangslage für alle weiteren Bildungsbereiche (Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung, außerschulische Jugendbildung und Erwachsenenbildung) werden an dieser Stelle ausgespart.

New Learning schafft vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangslage ebenfalls Handlungsbedarfe eines „New educational Working1“ im Erziehungs- und Bildungssystem (1: Wir sind uns darüber bewusst, dass diese Wortschöpfung grammatikalisch durchaus diskussionswürdig ist und möchten sie zum aktuellen Zeitpunkt zunächst einmal als eine Art „Platzhalter“ markieren). Damit sind beispielsweise die Fragen verbunden:

  • Wie kann von den handelnden Akteure*innen auch unter dem Einsatz digitaler Medien beispielsweise Fernunterricht und Fernlehre so gestaltet werden, dass Lern- und Bildungsprozesse initiiert werden, die möglichst keine Adressat*innen ausschließt?
  • Wie kann die Integrations- und Teilhabefunktion als wichtige Aufgabe bewahrt und sichergestellt werden? (Unter anderem dieser Fragestellung geht das Forschungsprojekt „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise“ am ZeBO nach)
  • Wie kann New Learning und „New educational Working“ auch Bildungsprozesse im Sinne des „Prozesses der Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit“ (Rucker 2019, S. 125) fördern?

Ungewissheit oder auch Kontingenz ist Kern pädagogischen Handelns. Offenheit und Ungewissheit z.B. durch Einflüsse der Peers, des Elternhauses, der Lebenswelt ganz generell sind nicht unmittelbar von den (pädagogischen) Akteure*innen zu beeinflussen. Dieser Umstand verstärkt sich unter den Bedingungen beispielsweise der digitalen Lehre und des Unterrichts. Routinehandeln gehört zum Repertoire professionellen Handelns, auch zur Reduktion von Offenheit und Ungewissheit. Durch die digitale Transformation ist es erforderlich neue Routinen zu erlernen, so dass Ungewissheit und Offenheit im Digitalen überhaupt erst durch routinierte Handlungsmuster der Professionellen bearbeitet werden können.

Daraus folgt als eine zentrale Forderung die umfassende Fort- und Weiterbildung für pädagogische Akteur*innen aller Bildungsbereiche. Und: der gezielte Austausch über die Bildungssegmente hinweg. Die Idee des New Learnings kann als ein verbindendes Element zwischen den bisher stark separierten Bildungssegmenten fungieren. New Learning und „New educational Working“ kann u.E. nur gelingen, wenn sich die pädagogischen Berufsgruppen als eine Einheit formieren und es als ihre gemeinsame Aufgabe ansehen, Lern-, Bildungs- und Reflexionsprozesse im Lebensverlauf ihrer Adressat*innen jenseits von institutionellen Übergängen und unter Einbezug non-formaler und informeller Lernprozesse zu begleiten. New Learning obliegt nicht alleine der Selbstverantwortung der Adressat*innen von Erziehung und Bildung, sondern ist auf das professionelle Handeln der Akteur*innen im System des lebenslangen Lernens angewiesen.

Hm-schuetz-grafikAbbildung: FernUniversität
  • Brümmer, F., Durdel, A., Fischer-Münnich, C., Fittkau, J., Weiger, W., & Altrichter, H. (2018): Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Zwischenbericht der Evaluation. Hamburg: Ramboll Management Consulting GmbH. Zugriff am 22.Mai 2020.

    HIS-HE (HIS-Institut für Hochschulentwicklung) (Hrsg.) (2019): Digitalisierung der Hochschulen. Ergebnisse einer Schwerpunktstudie für die Expertenkommission Forschung und Innovation. Expertenkommission Forschung und Innovation. Studien zum deutschen Innovationssystem Nr. 14-2019.

    Initiative D21 (Hrsg.) (2016): Sonderstudie »Schule Digital« 2016, eine Studie der Initiative D21. Zugriff am 22. Mai 2020. Verfügbar unter: https://initiatived21.de/app/uploads/2017/01/d21_schule_digital2016.pdf

    Monitor Lehrerbildung/Bertelsmann Stiftung, CHE Centrum für Hochschulentwicklung, Deutsche Telekom Stiftung & Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.). (2018): Lehramtsstudium in der digitalen Welt – Professionelle Vorbereitung auf den Unterricht mit digitalen Medien?! Eine Sonderpublikation aus dem Projekt Monitor Lehrerbildung.

    Mayrberger, K., Scheika, H., Scheiter, K. & Schiefner-Rohs, M. (2019): Digitalisierung in der Lehrerbildung. Herausforderungen, Entwicklungsfelder und Förderung von Gesamtkonzepten. DDS – Die Deutsche Schule 111. Jahrgang 2019, Heft 1, S. 103–119.

    Schiefner-Rohs, M., Bergemann, A., Brinkmann, B., Doerr, D., Jorzik, B., Ladel, S., Scheiter, K., Schneider, R., Steinl, V., van Ackeren, I., Winter, E., & Streitenberger, E. (2018): Lehrerinnen- und Lehrerbildung für die digitale Zukunft. Synergie – Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre, (6), S. 48–55. Zugriff am 22. Mai 2020. Verfügbar unter: https://uhh.de/wqrtm.

    van Ackeren, I., Aufenanger, S., Eickelmann, B., Friedrich, S., Kammerl, R., Knopf, J., Mayrberger, K., Scheika, H., Scheiter, K. & Schiefner-Rohs, M. (2019): Digitalisierung in der Lehrerbildung. Herausforderungen, Entwicklungsfelder und Förderung von Gesamtkonzepten. DDS – Die Deutsche Schule 111. Jahrgang 2019, Heft 1, S. 103–119.


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