Projekt
Politik im Präventionsstaat
- Projektleitung:
- Dr. Kathrin Loer
- Status:
- abgeschlossen
- Laufzeit:
- seit 2015
Art des Projekts: Habilitationsprojekt
Kurzbeschreibung
"Die Masern rücken näher" schreibt die FAZ am 4.2.2015 und verweist dabei auf Masernausbrüche in bestimmten Regionen auch in Deutschland. Immer wieder diskutieren Gesundheitspolitiker über das Impfen, wenn solche Schlagzeilen publik werden. In Deutschland steht es (bisher) jedem Bürger frei, sich impfen zu lassen, und auch Eltern sind nicht zum Impfen ihrer Kinder verpflichtet. Hier gibt es Aufklärungskampagnen, die auf ein entsprechendes - präventives - Verhalten Einfluss nehmen sollen (z.B. "Deutschland sucht den Impfpass" der BZgA). Hingegen herrscht beispielsweise im Vereinigten Königreich (UK) eine Impflicht zur Prävention bestimmter Krankheiten. Das Gesundheitsrisiko dürfte in beiden Ländern vergleichbar sein und doch unterscheiden sich die politischen Maßnahmen deutlich.
Ähnlich disparat verhält es sich beispielsweise beim Glückspiel, das in einem Zusammenhang mit Spielsucht als Gesundheitsgefahr steht: Hier lassen sich große Unterschiede vor allem bei der Regulierung des Glücksspielangebots im Ländervergleich zwischen UK und Deutschland, aber auch in Deutschland zwischen unterschiedlichen Glücksspielarten beobachten, in deren Kontext mit "Gesundheitsschutz" argumentiert wird (Loer 2014). Unterschiedliche politische Maßnahmen lassen sich ebenfalls registrieren, wenn es um gesundheitliche Risiken durch bestimmte Praktiken oder Moden, wie z.B. Körperschmuck (Piercing, Tätowierungen) geht: In Deutschland sind Folgeschäden solcher Eingriffe explizit aus dem Leistungskatalog der Sozialversicherung ausgeschlossen (§52 (2) SGB V), während der "National Health Service" in UK zwar die Durchführung von Piercing und Tätowierungen stark reguliert (Registration systems, Local Government Acts etc.), bei Gesundheitsschäden aber Versorgungsleistungen anbietet.
Vielen OECD-Ländern ist gemein, dass sie zunehmend unter dem Stichwort "Präventionspolitik" die Vermeidung von Gesundheitsrisken diskutieren; die politischen Maßnahmen, die daraus resultieren, sind aber sehr disparat. Teilweise scheinen zwar auch "neue" Risiken aufzutreten, häufig werden aber bekannte Produkte oder Lebenspraktiken ab einem gewissen Zeitpunkt als ein Gesundheitsrisiko wahrgenommen, das es politisch zu bearbeiten gilt, wie die Maßnahmen zum Nichtraucherschutz in den vergangenen Jahren und beispielsweise erste Kampagnen zur Einschränkung des Zuckerkonsums (z.B. USA, Australien, Mexiko) zeigen.
Der Schutz des einzelnen Bürgers gehört zu einer der vornehmsten staatlichen Aufgaben - darunter fällt stets auch der Schutz vor Gesundheitsrisiken, selbst wenn dieser nicht offensichtlich ist, sondern (bislang) vor allem in Arbeits-, Verbraucher- oder Umweltschutzes aufgeht. Eine neue Perspektive des Gesundheitsschutzes ergibt sich, wenn es um die Vermeidung von Krankheiten geht, die mit individuellem Verhalten zu tun haben, wenn also gewissermaßen der "Schutz des Bürgers vor sich selbst" das Ziel ist. Eine solche veränderte Stoßrichtung der Gesundheitspolitik im "Präventionsstaat" mag mit strukturellen Problemen zu tun haben, für die viele industrialisierte Länder nach Lösungen suchen: Demographischer Wandel und technologischer Fortschritt treiben die Systeme an ihre organisatorische Belastungsgrenze, haben Konsequenzen auf das ökonomische und gesellschaftliche Zusammenleben und sorgen nicht zuletzt für einen hohen Kostendruck in den Systemen.
Im Habilitationsprojekt geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen auf nationalstaatlicher Ebene Maßnahmen zur Vermeidung individueller Gesundheitsrisiken beschlossen werden. Als zu erklärendes Phänomen (abhängige Variable) werden demnach politische Maßnahmen im Nationalstaat zur Vermeidung individueller Gesundheitsrisiken betrachtet. Es geht also die Frage, ob und wie politische Eingriffe in jene individuelle Alltagsentscheidungen vorgenommen werden, welche gesundheitliche Risiken / Krankheitsrisiken bergen können. Anders gefragt: Warum und unter welchen Voraussetzungen kommt es zu politischen Entscheidungen im Nationalstaat, die in individuelle Lebenspraktiken eingreifen?