Präsenzveranstaltung

Seminarbeschreibung

In der Philosophie Henri Bergsons gibt es einen leitenden Gedanken: Die wirkliche Dauer (durée réelle), ein zweifelfreies Faktum menschlichen Lebens, das für seine gesamte intellektuelle Entwicklung konstitutiv bleibt, wenngleich in den einzelnen Werkstufen die exakten Relationen der immanenten Elemente variieren. Die Dauer, so die Generalthese, ist eine authentische Zeitform des erlebten Lebens, die in Opposition zur objektiv-messbaren Zeit steht.

Bergson beließ es nicht bei der Ausarbeitung seiner Kernthese, dass alles sich in einem Werden, in einem endlosen Prozess befindet, das Leben wie die Erkenntnis. Vielmehr machte er sich daran, auf dieser Grundlage Lösungen zu entwickeln, die Antworten auf traditionelle Grundfragen der Philosophie geben sollten. Hierzu gehörte das Problem der Willensfreiheit ebenso dazu wie die Klärung des Verhältnisses von Geist und Materie. Desgleichen führte er neue metaphysische Elemente wie den élan vital ein, den Lebensschwung, um Aporien der naturalistischen Evolutionstheorie Darwins aufzulösen. Mit jeder neuen Phase wuchsen Einfluss und Wirkung Bergsons im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die ihn bis in die Académie française und zum Nobelpreis für Literatur 1927 führten. Das Denken Bergsons war der unüberschreitbare Horizont einer ganzen Epoche des Denkens der Literatur und der politischen Philosophie von etwa 1890 bis 1930, das dann durch junge Intellektuelle wie Sartre, Merleau-Ponty und andere abgelöst wurde, die sich der Phänomenologie zuwandten. Doch auch nach der Zäsur spukte Bergson unterschwellig und schweigend weiter in den Texten der jungen französischen Phänomenologen.

Das Seminar hat das Ziel, sich ein Verständnis des vielschichtigen Werkes dieses einflussreichen Denkers zu erarbeiten. Das kann aber nur durch eine aktive Teilnahme am Seminar gelingen, durch Diskussionsbeiträge oder/und die Übernahme von Referaten. Das setzt voraus, dass Sie die Texte vor Seminarbeginn mindestens einmal durchgearbeitet haben. Eine Liste von Referatsthemen, die zu Hausarbeiten ausgebaut werden können, wird allen Teilnehmenden etwa drei Monate vor Seminarbeginn (Mitte Februar) zugesendet.

Primärliteratur

• Bergson, Henri (2016): Zeit und Freiheit. Hamburg: Meiner Verlag

[In diesem Buch entwickelt Bergson seine oben kurz angerissene Kernthese, die für sein gesamtes weiteres Denken die Grundlage darstellt. Bitte arbeiten Sie es gründlich durch]

• Bergson, Henri (2015): Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner Verlag

[Die in diesem Buch entwickelte Theorie ist nicht nur spannend und innovativ in Bezug auf das Leib-Seele-Problem, sondern leider auch recht schwer verständlich. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken und lesen Sie zumindest das erste Kapitel (bis S. 86). Wir werden im Seminar dann versuchen, Bergsons Konzeption zu rekonstruieren]

• Bergson, Henri (2020): Schöpferische Evolution. Hamburg: Meiner Verlag

[Hier taucht der berühmte Ausdruck des élan vital (Lebensschwung) zum ersten Mal auf, der Bergson zu einem Vertreter der Lebensphilosophie machte. Das Buch sollte einmal komplett gelesen werden. Die Lektüre lohnt sich auch in anderer Hinsicht, da Schöpferische Evolution auch Textgrundlage für ein geplantes Seminar sein wird, das sich mit philosophischen Beiträgen zur Evolutionstheorie beschäftigen wird]

Sekundärliteratur (empfohlene Auswahl)

• Deleuze, Gilles (1989): Bergson zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag

• Barnard, G. William (2011): Living Consciousness. The Metaphysical Vision of Henri Bergson. New York: SUNY Press.