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Farbkreise mit Farbverläufen auf schwarzem Hintergrund. (Farbkreise teilweise verbunden) RLT_Images/DigitalVision Vectors/Getty Images

Auf dieser Seite finden Sie Informationen zu geplanten und vergangenen Veranstaltungen vom "Netzwerk Qualitative Familienforschung".


Interdisziplinäre Tagung: „Vom Gewordenen zum Gemachten. Wenn sich die Grenze zwischen Zufall und freier Entscheidung verschiebt - Familienplanung 2.0“

17./18. November 2023 an der FernUniversität in Hagen

(Interdisziplinäres Netzwerk Qualitative Familienforschung; Konzept: Olaf Behrend und Dorett Funcke)

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Gegenstand der interdisziplinären Tagung sind die Möglichkeiten der Repro­duk­tions­me­di­zin und ihre Folgen für Familien- und Identitäts­bildungs­prozesse. Anlass für eine Tagung mit diesem Schwerpunkt sind gesell­schaftliche Entwicklungen in Richtung einer Libera­li­sie­rung, die das Spektrum an Alternativen für Familien­grün­dungen erweitertet und sozial­konstruk­tivistischen Perspektiven Raum gibt, die familiäre Bindung und Beziehungen als gesell­schaft­liches Konstrukt sehen. Ent­tra­di­tiona­li­sie­rung und Auto­no­mi­sie­rung der Lebenspraxis, infolge dessen normativ gültige Lebens­muster erodieren, aber auch Indi­vi­duali­sierungs­prozesse, die eine „Verbindung mit jenen Vorgängen ein[gehen], welche die Moderne notorisch bestimmen, nämlich mit Rationalisierung und Ökonomisierung“ (Winkler 2023, i.V.) führen im Handlungsfeld der Nachwuchs(er)zeugung dazu, dass technische Prozesse der Machbarkeit Fragen der sozialen Folgen in den Hintergrund rücken. In der Formel vom „doing family“ (vgl. Jurczyk/Lange/Thiessen 2014) findet dieses am Machen, Planen und Berechnen orientierte Herstellen von Familie seinen modischen Ausdruck.

Ziel dieser Tagung ist es aber keineswegs, konventionelle Eltern-Kind-Konstellationen bzw. der Kernfamilie solche Familien gegenüberzustellen, die mithilfe der Fortpflanzungsmedizin oder/und Biotechnologien (PID) entstanden sind, auch geht es nicht um eine kulturkritische Positionierung und schon gar nicht darum, dem technischen und technologischen Fortschritt im Feld der Reproduktionsmedizin mit einer antiliberalen Haltung zu begegnen. Unser Anliegen ist, über aktuelle Forschungen und Erfahrungen aus dem Bereich der klinischen Praxis für einen kritischen Blick zu sensibilisieren dort, wo „versteckte Risiken und Nebenwirkungen des medizinischen Fortschritts“ (Oelsner/Lehmkuhl 2022, S. 95) gerne ausgeblendet werden, denn „Zweifel sind nicht das Thema der Reproduktionsmedizin“ (ebd., S. 5), und Neuem und Möglichen mit einem „anything goes“ begegnet wird. Befunde aus Wissenschaft und Praxis11 liefern Argumente, um innezuhalten und nach den Bedingungen und Folgen von Technik und Technologien zu fragen, die in lange Zeit Unverfügbares, Naturwüchsiges, Schicksalhaftes wie kontingente Befruchtungsvorgänge eingreifen und traditionelle genealogische Zusammenhänge, das „herkömmliche Verhältnis von sozialer Elternschaft und biologischer Abstammung“ (Habermas 2001, S.23), verändern. Was bedeutet es für familiale sozialisatorische Interaktionsstrukturen und personale Selbstverhältnisse von Heranwachsenden, wenn neues Leben mithilfe von medizinisch-technischer Assistenz oder mithilfe von Biotechnologie (genetischer Embryo) entsteht? Was folgt daraus, wenn das, was vorher Zufall war in den Bereich des Verfügbaren transferiert wird, wir es mit Verdinglichungsprozessen in einem Bereich zu tun haben, der dem Eingriff des Menschen bisher entzogen war, wenn das von „Natur aus Gewordene“ (ebd. S. 83) jetzt das „Hergestellte“ (ebd.) wird, wenn sich die „Grenze zwischen Personen und Sachen“ (ebd., S. 30) verschiebt? Das sind Fragen, die uns möglicherweise auch noch weiter in Zukunft beschäftigen werden. Aber wer kann das genau wissen und lakonisch dazu Habermas: „Warum sollte sich der Mensch nicht mit einem achselzuckenden ‚So what?‘ auch daran gewöhnen? Nach den narzisstischen Kränkungen, die uns Kopernikus und Darwin mit der Zerstörung unseres geozentrischen und unseres anthropozentrischen Weltbildes zugefügt haben, werden wir der dritten Dezentrierung unseres Weltbildes – der Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik – vielleicht mit größerer Gelassenheit folgen“ (S. 95). Doch derzeit kann mit Blick auf den klinischen Beratungsbedarf und aktuelle Studien davon keine Rede sein.
Wir laden Wissenschaftler/innen und im Feld der Professionen Beschäftigte ein, die zu bzw. mit Familien arbeiten, die mithilfe von reproduktionsmedizinischen Verfahren entstanden sind (homologe/heterologe Samenspende, IVS, ICSI, Präimplantationsdiagnostik, Eizellspende, Embryonenspende) und/oder über bzw. mit Kindern/(jungen) Erwachsenen arbeiten, deren vorgeburtlicher Lebensanfang durch eine „technisierte Urszene“ (Winnicott 1953/2000, S. 174) bestimmt ist. Das letzteres nicht trivial ist für interpersonale Beziehungen und Selbstverhältnisse belegen Befunde.

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Die Vorträge sollen sich schwerpunktmäßig einem der Blöcke zuordnen und die dort aufgeworfenen Fragen integrieren:

A) „Multiple Elternschaft“ (Bergold et al. 2017) und ihre Folgen für Familienbildung und familiale sozialisatorische Interaktionsstrukturen

Mit der Bezeichnung sind Familien gemeint, in denen mehr als zwei Eltern, mehr als ein Mann und eine Frau, die in der Kernfamilie Vater und Mutter sind und gemeinsam gezeugte Kinder haben, an der Familienbildung beteiligt sind. Andere Beschreibungen für Eltern-Kind- Konstellationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das, was „traditionell zusammengehörig gedacht wird [hier getrennt ist]: biologische, genetische, soziale und rechtliche Elternschaft“ (ebd.), sind: „gespaltene Elternschaft“, „entkoppelte“, „pluralisierte“, „fragmentierte“ oder „segmentierte Elternschaft“. Unabhängig von der begrifflichen Einfassung ist allen diesen Familien gemeinsam, dass sie Resultat eines Herstellungsprozesses sind, bislang Unverfügbares (vgl. auch Rosa 2022) – wie Elternschaft – wird durch Fortschritte in der Reproduktionsmedizin verfügbar gemacht; dass „Geburt ohne vorherige Sexualität (Ofer, 2020, S. 69)“ (Oelsner/ Lehmkuhl 2022, S. 24) stattfindet, dass andere, also eine dritte, vierte, manchmal auch fünfte Person am Familienbildungsprozess beteiligt sind und dass Identitätsbildungsprozesse von den Heranwachsenden in diesen Familien auf der Grundlage einer „multiplen genetischen Mitgift“ (ebd., S. 12) zu gestalten sind.
Vorträge, die im Kern das Thema der Familienbildung und die familialen Folgen wählen, sollten wünschenswerterweise Zusammenhänge erklären, die mit folgenden Fragen verbunden sind: Wie gelingt es Eltern unter der Bedingung von ‚multipler Elternschaft‘ die Triade ins Werk zu setzen? Was bedeutet es für die elterliche Paardynamik und für die Eltern-Kind-Beziehungen eine Familie ohne zweigeschlechtliche Fortpflanzung, ohne vollzogene Sexualität gegründet zu haben?22 Wie gestalten Männer als Väter und Frauen als Mütter ihre Eltern-Kind-Beziehung (Belege, dass es da Unterschiede gibt lassen sich bei Oelsner/Lehmkuhl 2022 finden) und welche Folgen hat die technische Reproduzierbarkeit für das Elternpaar? Wie gehen Eltern damit um, über „reproduktionsmedizinische Methoden der Machbarkeit“ (ebd., S. 65) in das Genogramm ihrer Kinder eingegriffen zu haben und so z.B. festlegen, dass sie die genetische Mutter nicht kennenlernen können (so im Falle einer Eizellspende), dass der Vater ein Namenloser ist (so bei einer anonymen Samenspende) oder dass die genetischen Eltern und die biologische Mutter unbekannt sind (so im Falle von Embryonenspende und Leihmutterschaft)?

B) Identitätsbildungsprozesse von Heranwachsenden

Vorträge, die im Kern das Thema der Identitätsbildung, personale Selbstverhältnisse und autonome Lebensführung diskutieren vor dem Hintergrund multipler Elternschaft und/oder eines technisch vermittelten Lebensanfangs sollten wünschenswerterweise Zusammenhänge erklären, die mit folgenden Fragen verbunden sind: Welche empirischen Folgen multipler Elternschaft lassen sich aus forschender, therapeutischer oder begleitender Perspektive für die Identitätsbildung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausmachen? Gibt es typische Reaktionsweisen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf nämliche familiäre Konstellationen? Welche entwicklungspsychologischen Folgen hat es, wenn Kinder in einem Rahmen aufwachsen, der dadurch bestimmt ist, dass ihre Zeugung über eine technisierte Prozedur zustande kam und ihre (sozialen) Eltern manchmal auch Fragen der genetischen Abstammung nicht eindeutig beantworten können (oder wollen)? Reicht der Verlust der „naturwüchsigen Unverfügbarkeit“ (Habermas 2001, S. 32) bis in das Selbstverhältnis einer Person hinein? Was bedeutet es für die Leiberfahrung und das Körperempfinden, wenn in kontingente Befruchtungsvorgänge eingegriffen wird, Vorgeburtliches wie eine Sache behandelt wird (vgl. ebd., S. 87ff.)? Mit welchen Strategien, manchmal auch unorthodoxen Mitteln, reagieren Heranwachsende, wenn Eltern mittels medizinisch-technischer Fortpflanzung ihre Entscheidungsmacht in einen Bereich ausdehnen, der bei üblicher Schwangerschaft ihrer Verfügbarkeit entzogen ist? Hat es Folgen für die autonome Lebensführung, wenn Kinder keinen „unverfügbaren Anfang“ haben? Was machen „Spenderkinder“ ab dem 16. Lebensjahr, wenn sie gemäß des 2018 novellierten Samenspenderregistergesetz Auskunft über ‚ihren‘ Samenspender erhalten können? Wie gehen die (sozialen) Elternteile mit dem Wunsch des Kindes (und ggf. dem unbekannten Dritten) um? Gibt es weitere Normalisierungserwartungen, etwa nach dem Eintrag des Vaters in die Geburtsurkunde (Klenke-Lüders 2022, S. 81)?

C) Weitere technisch mögliche Phänomene und etwaige darauf bezogene sozial wie rechtliche Veränderungen: Alleinmutterschaft (solo mothering), social freezing bzw. Eizellvorsorge; gesellschaftlicher Wandel der Sicht auf Eizellspende und Leihmütter etc.

Auch weitere reproduktionsmedizinisch mögliche Interventionen können in Vorträgen aufgegriffen werden: Was sind die Besonderheiten der Alleinmutterschaft? Welche Erfahrungen aus der Beratungspraxis während der Begleitung reproduktionsmedizinischer Interventionen liegen vor? Wie wird social freezing genutzt? Wie gehen Reproduktionsmediziner/innen mit den empirischen Folgeproblemen des social freezing bzw. der Eizellvorsorge (aber auch etwaiger anderer Eizellen) um? Was sind die rechtlichen, was die ethischen Sichtweisen? Wie gehen (junge) Frauen mit der Möglichkeit des social freezing um? Hat diese Möglichkeit auffordernden Charakter für sie etc.?
Schließlich: Rechtssoziologisch zeichnet sich ein Wandel der Rechtsprechung im Umgang mit der Leihmutterschaft ab. Höhere Rechtsinstanzen haben wiederholt mögliche ‚indirekte Sanktionen‘ der Amtsgerichte gegen deutsche Auftraggeber von Leihmüttern (inkl. Eizellspende) im Ausland aufgehoben. Zeichnen sich hier divergierende rechtliche Deutungsmuster oder ein grundsätzlicher Wandel der Rechtsprechung ggf. auch der gesetzlichen Grundlagen im Umgang mit den ausgedehnten technischen und sozialen Möglichkeitsräumen ab? Welche Tendenzen sind diesbezüglich seitens der beteiligten Bundesministerien auszumachen?
Das Gemeinsame der in den Vorträgen diskutierten Ergebnisse und Erfahrungen ist eine empirische Grundlage, die ihren Ausdruck im fallorientierten Forschen oder fallbezogenen Handeln im Feld der Professionen haben kann. Theoretische Bezüge, Konzeptbildungen als auch generalisierende Schlussfolgerungen, die eine Theorie der Familie betreffen, werden erwartet. Wir begrüßen wissenschaftliche Arbeiten, die in Generationenzusammenhängen denken, mit Sequenzanalysen (Oevermann) bzw. liny-by-line Analysen (Strauss) arbeiten und familiensoziologische Analysen verschränken mit psychoanalytischen Konzepten, Konzepten der Sprachtheorie und der Sexualwissenschaft. Als gewinnbringend betrachten wir auch Analysen, die eine Verbindung von (Familien)Soziologie, Soziolinguistik, Psychoanalyse und Sexualwissenschaft herstellen, um Tiefenstrukturelles zu erfassen.
Wir laden Wissenschaftler/innen aus den Disziplinen der Soziologie, der Psychologie, der Ethnologie sowie Sexualwissenschaftler ein als auch aus dem Feld der Professionen Mediziner, Psychoanalytiker, Kinder-, Jugend- und Familientherapeuten, systemische Beraterinnen und Berater, auch Ethiker und Juristen sich an der Tagung mit einem Vortrag zu beteiligen.

Für die einzelnen Vorträge sind 30 Minuten Vortragszeit und 30 Minuten Diskussion vorgesehen. Eine Publikation der Tagungsergebnisse ist geplant. Die Tagung findet am 17./18. November 2023 auf dem Campus der FernUniversität in Hagen statt. Exposés in einer max. Länge von 5000 Zeichen, ergänzt durch kurze biobibliographische Angaben sind einzureichen bis zum 11. Juni 2023 an:

E-Mail: kontakt-nqf

 
Netzwerk Qualitative Familienforschung | 10.05.2024