Statement von Prof. Dr. Urs Gasser

Foto: Anne Gabriel-Jürgens

Vielleicht gewinnbringender als die Frage nach dem Inhalt des Begriffs „New Learning“ ist zunächst die Beobachtung, dass die Forderung nach einem neuen Lernen im Verlauf der Geschichte in Momenten des tiefen gesellschaftlichen Wandels auftaucht – in der Vergangenheit etwa während der Renaissance oder der Aufklärung. Auch heute konstatieren wir tiefgreifende Veränderungsprozesse, die mithin technologische, wirtschaftliche, soziale sowie institutionelle Ausprägungen haben.

Angesichts der Vielzahl von Umwälzungsfaktoren bleibt die Forderung nach „New Learning“ ausfüllungsbedürftig. Diese Offenheit des Begriffs kann eine Stärke sein, wenn sie als Einladung zur Auseinandersetzung mit der Frage verstanden wird, wie strukturelle Veränderungen die Lernumwelten beeinflussen und welche Chancen und Herausforderungen damit verbunden sind. Wir müssen noch besser verstehen, wie die Umwälzungen von heute und morgen unsere persönlichen und kollektiven Lernwelten beeinflussen und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Deutlich sichtbar ist, dass die Digitalisierung eine aus historischer Sicht folgenreiche Erscheinung ist und ein „New Learning“ dringend macht: Zumindest in der Perspektive – die Erfahrungen mit COVID-19 verdeutlichen die Hindernisse – erweitern Digitaltechnologien den gestaltbaren Möglichkeitsraum für das Lernen.

Die Digitalisierung hat das Potenzial, verschiedene Orte des Lernens (etwa Schule und Lernen im privaten Raum) gezielter miteinander zu verknüpfen. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, von und mit wem wir lernen, mit welchen Methoden das Lernen effektiver und lustvoller gemacht werden kann, und wie Lernende besser begleitet und unterstützt werden können – ein Leben lang. „New Learning“ kommt indes auch mit einem inhaltlichen Anspruch, etwa unter dem Stichwort „Data Literacy“. Hier liegt wohl die größte Herausforderung: Welche neuen institutionellen Arrangements und Lehrpläne, welche innovative Didaktik und welchen „Mindset“ braucht das „New Learning“, um das Lernen in der digitalen Welt zu situieren, fördern und unterstützen? Zusammengenommen braucht es nichts weniger als eine neue digitale Lernkultur, die auf einem erweiterten und digitalisierten Lernbegriff aufsetzt. Es ist m.E. diese Fähigkeit zur Gestaltung einer Lernkultur und nicht nur das technologisch-digitale Lernen allein, das uns Menschen von anderen Lebewesen und zukünftig auch von künstlichen Intelligenzen unterscheidet - und hoffentlich humaner werden lässt.


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